Feuilleton

Bundesliga-Tipp Spieltag 15: Russland, Katar und andere Kuriositäten

Zu den Auswertungen des Akademie-Tipps konnte bisher immer von Kuriositäten in der Bundesliga berichtet werden. Mit den WM-Vergaben für 2018 und 2022 zieht nun die FIFA nach. Unbeeindruckt behauptet Leon Gassner souverän die Tabellenführung.

Akademie Bundesliga-Tipp 2010/2011: Stand nach Spieltag 15

Liebe Tipperinnen und Tipper,

sagen wir es mal so: Die Übergänge vom Kuriosen zum Grotesken und Bizarren sind fließend, je nach der Differenz des Erwartbaren zu dem, was passieren kann; und in seltenen Fällen tatsächlich mal passiert. Irgendwo dort ist die aktuelle Bundesligasaison einzuordnen. Dann gibt es noch das vollends Phantastische, das Außerirdische gewissermaßen, eben das, was auf dem Boden der Tatsachen niemals geschehen kann, oder vielleicht irgendwann mal, wenn dieser Boden dereinst gründlich umgepflügt ist. Wahlweise spricht man in dem Fall von science fiction oder politischer Utopie. Das ist dann die WM 2022 in Katar. Man könnte auch sagen: ein Hirnriss, aber wirklich wahr. Denn die Fifa macht’s möglich.
(einen „unendlichen Witz“ nannte das Christian Zaschke in der SZ, den schlechten Witz mit Katarrh durch Katar muss man jetzt trotzdem nicht gleich machen, obwohl? Schleimhautentzündungen mit reichlichen Absonderungen? Man denke an das Hüsteln, Schlucken und Schluchzen der Unterlegenen …)

Es schmeichelt der greisen Doppel-Elf um ihren ‚aggressive leader‘ Sepp Blatter sicherlich, wollte man sie, ausgerechnet!, einreihen unter die großen Visionäre und bahnbrechenden Utopisten. Aber bitte, ein bisschen was davon hat die Sache schon. U-topos, griechisch für kein Ort, nirgendwo, welcher Begriff würde besser passen auf das Fußballland Katar: 11.000 km2, also die Hälfte Hessens etwa oder nicht ganz ein 1/6-tel Bayerns, vorherrschend Salzpfannen, Geröll- und Kieswiesen, kaum ein grüner Fleck und im WM-Juni gut 45 Grad im selten vorhandenen Schatten. Womit auch schon die science fiction ins Spiel kommt: Man werde den ganzen heißen Fleck und speziell die 12 WM-Arenen – davon 9 auf einer Achse von 50 km, was das Handling deutlich erleichtert – einfach in die Kühlbox stecken, auf 27 Grad runterkühlen, natürlich, solartechnisch, CO2-neutral und ganz nah am Perpetuum mobile. Und dann werden 9 der 12 WM-Stadien ja auch keine traurigen Weißen Elefanten in der Geröllwüste sein, nein, sie werden komplett recycelt, besser noch, komplett demontiert und andernorts ‘in Entwicklungsländern’ Stein für Stein wiedererrichtet. Schließlich, noch ein Punkt für Utopisten, bringe man die friedensstiftenden Kräfte des Fußballs erstmals mitten hinein in den arabisch-islamischen Raum, wir sehen die Al Qaida-Kämpfer schon ihre Flinten ins Minenfeld werfen und voller Freude auf den Platz stürmen.

Was soll man also meckern? Vielleicht, dass Katar 2018 noch ein bisschen besser gewesen wäre; die klimagenialen Wanderstadien hätten dann für 2022 gleich ins kalte Russland weiterziehen können, Schalter umgelegt, und selbst im sibirischen Winter würden dort bald mollige Fußballtemperaturen herrschen. Beschweren könnten sich auch Inseln wie Malta oder Kreta (8.302 km2, also fast ideale Katar-Größe) oder, warum nicht: Sylt, Amrum, Insel Föhr, keiner hat ihnen erzählt, welche Bewerbungschancen man neuerdings hat. Ein erbärmliches Schauspiel lieferten dagegen die Verlierer aus England: Nach der Pleite hat Londons Bürgermeister Boris Johnson sofort Blatters Mannschaft (nein, in dieser Doppel-Elf ist keine einzige Frau) ausgeladen von den Olympischen Spielen 2012, nur war das doch einer jener, die zuvor ganz laut Pssssssst! gerufen hatten, in Richtung BBC und Sunday Times nämlich: die sollten bitte Englands Chancen nicht mit überflüssigen Korruptionsgeschichten über Fifa-Vorständler schmälern. Um wie Vieles glänzender Wladimir Putin im Einsatz für Russland (145. auf der Korruptionsliste von Transparency International, Korruptions-Europameister): die ‘Schmutzkampagne’ gegen die Fifa erst gebührend gegeißelt, und am Ende ganz oben. Sehr stark auch Wolf-Dieter Poschmann letzten Samstag im ZDF-sportstudio beim Interview mit dem auskunftfreudigen Ex-Fifa-Insider Guido Tognoni: Soso, auch der DFB und die Regierung Schröder habe also Dreck am Stecken (Vergabe der WM 2006, ein Ozeanier verschwindet im rechten Moment von der Bildfläche), warum das hierzulande so wenig im Bewusstsein sei, eieiei?, der DFB als mächtigster Fußballverband der Welt könnte die Fifa doch vor sich hertreiben und von innen reformieren, eigentlich, nun ja nun ja – fast alle Zuspiele vorbildlich verhaspelt, man weiß ja nie, vermutlich droht tatsächlich die sofortige Exkommunikation durch Fifa und DFB (zugegeben, der Deal der Katar-Holding mit den Stadionbauern von Hochtief und zur möglichen Rettung vor den Spaniern war da noch nicht raus).

Jedenfalls, eines ist klar: Der Fußball und seine Fans spielen bei einer WM-Vergabe der Fifa die geringste Rolle, welche Kriterien statt dessen gelten, oder noch besser: gelten sollten, neben ein bisschen fadenscheiniger sciene fiction und Utopie, das wäre die fußballkulturelle Gretchenfrage. Das Time Magazine aus den USA fasst den Erkenntnisstand vorläufig so zusammen: »Russland und Katar (...). Wer braucht eine total freie Presse oder faire Wahlen, um eine gute Show zu garantieren?« Die Fifa offenbar nicht, das Kulturgut Fußball eventuell schon.

Wie aber wär’s, wenn wir es machen würden wie damals beim Bolzen? „Macht keinen Spaß mehr, komm, nimm den Ball, mit denen spielen wir nicht mehr.“


Lebbe aber geht weiter, was macht die Bundesliga? Wir nehmen alles zurück, und behaupten das Gegenteil. Keine ‘Normalisierung’ in Sicht, nein, in dieser Vorrunde nicht mehr. Die Dortmunder Borussen sprengen alle Vorsprungrekorde (bloß die BVB-Aktien fallen schon wieder) – Glückwunsch zur Wald-, pardon Herbstmeisterschaft! –, Mainz, Hannover, Freiburg stehen dort, wo die allermeisten München, Bremen, Wolfsburg, Schalke und Stuttgart erwartet hätten, unser ‘Mittipper-Tipp’ dümpelt auf Platz 61, ‘Alle Jahre wieder’ gar auf 97 (und sogar ‘Phantomas’ hat als 26. wenig zu melden), denn auch die 2. Liga bietet Überraschungen satt, mit Aue an der Spitze, Hertha nur auf 5 und gleich 7, 8 Teams ganz nahe an den Aufstiegsplätzen.

Die sehr niedrig liegende 100-Punkte-Marke überspringen deshalb gerade noch 10 TipperInnen, am elegantesten unser alter und neuer Tabellenführer Leon Gassner mit jetzt 81 Zählern (zum Vergleich: Vor einem Jahr lagen zum 15. Spieltag 126 Tipps unter 100 Punkten, für die Spitze brauchte es 68 Zähler). Mit 89 Punkten folgt Oliver Fritsch auf Platz 2 vor Nicole Selmer mit 95. Auf den Top-10-Plätzen weiter der Tippwart, Manuel Siegel (Newcomer), Martin Bauer-Stiasny, Theophil Graband, Fritz Höfler sowie zwei weitere Newcomer mit Martin Haltermann und Paul Joschko.

Kurz vor Weihnachten kommt dann die Abschlusstabelle zur Vorrunde 2010/2011.

Soviel für heute, mit sportlichen Grüßen aus der Noris!

Ihr

tippwart joschko

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