Stübner
Popstar wider Willen (2019/2020)Rezension: Stübner. Popstar wider Willen
Marco Puschner / Nürnberger ZeitungEr galt in den Wendejahren als einer der besten Fußballspieler der untergehenden Deutschen Demokratischen Republik. Jörg Stübner war dabei, als die DDR-Nationalmannschaft im September 1990 beim 2:0 gegen Belgien ihr letztes Länderspiel absolvierte. Er war dabei, als Dynamo Dresden 1989 und 1990 mit zwei Titelgewinnen die jahrelange Vorherrschaft des DDR-Serienmeisters Berliner FC Dynamo beenden konnte. Und er war dabei, als sich Dresden 1991 für die Bundesliga qualifizierte.
Doch im geeinten Deutschland verglüht Stübners Stern rasch, obwohl er sich 1990 mit 25 Jahren noch im besten Fußballeralter befindet. Der 1966 geborene freie Journalist und Filmemacher Uwe Karte geht in seiner glänzend geschriebenen und aufwändig gestalteten Biografie der Frage nach, warum Stübner scheiterte – im Fußball und im Leben.
Während Ulf Kirsten, mit dem er 1983 in der DDR-Oberliga (der dortigen höchsten Spielklasse) gemeinsam debütiert, seinen 49 DDR-Länderspielen noch 51 für Deutschland folgen lässt, kommt der 47-malige DDR-Nationalspieler Stübner gerade mal auf fünf Bundesligaeinsätze. 1993 wird sein Vertrag in Dresden nicht verlängert. Der laufstarke Mittelfeldspieler kickt danach noch für einige Amateurvereine. Ohne echte Berufsausbildung lebt er später von Sozialhilfe und Hartz IV, Alkoholprobleme kommen hinzu.
"Popstar wider Willen" lautet der Titel von Kartes (im unorthodoxen Querformat erschienenen) Buch, weil Stübner spätestens 1985, als er in einem Länderspiel den damaligen französischen Ausnahmekönner Michel Platini ausschaltet, zu einem Fanliebling und Teenie-Schwarm avanciert. Dabei ist der modebewusste junge Mann mit der Popperlocke im privaten Leben eher scheu und zurückhaltend, selbst die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die ihn beschatten, sehen in ihm einen Eigenbrötler.
Karte zeichnet Stübner nicht als einen DDR-Nostalgiker. Als die Stasi den jungen Fußballer anwerben will, beweist dieser Mut und verweigert sich. Aber es scheint doch so, als kommt Stübner, der von Kindesbeinen in dem auf Drill und Disziplin angelegten Sportsystem der DDR eingebunden war, nach 1990 mit den neuen Freiheiten nicht klar. Er lebt allein mit wechselnden Goldhamstern, die er immer wieder beerdigen muss. Ohne Fußball weiß er nichts mit sich anzufangen, doch um Hilfe bitten ist seine Sache nicht.
Karte trifft sich ab 2015 für das Buchprojekt regelmäßig mit Stübner, hilft ihm auch bei der Wohnungssuche, als dem Ex-Fußballer wegen Eigenbedarfs gekündigt wird. Zudem spricht er unter anderem mit Jugendtrainern Stübners, einem Lehrer und einem Anhänger, der noch 25 Jahre nach dem letzten Pflichtspiel des "Stübs" für Dresden stets eine Fahne mit dem Konterfei des einstigen Popstars im Stadion dabei hat. "Weil das ein großer Dynamo war, mit Herz!", sagt der Fan zur Begründung. Auch Ex-Mitspieler spielen in Kartes mit zahlreichen Fotos und Dokumenten illustriertem Buch eine große Rolle. An einer der berührendsten Stellen wird deutlich, wie sehr den Ex-Torjäger Kirsten das Schicksal seines langjährigen Weggefährten mitnimmt.
Im Juni 2019 stirbt Jörg Stübner mit nur 53 Jahren überraschend an Herzversagen. So ist aus Kartes Projekt ein 416-seitiger Nachruf geworden. Es gibt viele Werke über die großen Gewinner des Fußballs. Uwe Karte hat sich indes mit Akribie und Empathie dem Schicksal eines Mannes gewidmet, der nach verheißungsvollen ersten Jahren tief gestürzt ist. Deswegen ist "Popstar wider Willen" mein Fußball-Buch des Jahres.