Wir gingen raus und spielten Fußball
(2021/2022)Rezension: Wir gingen raus und spielten Fußball
Malte von PidollDer Bolzplatz ist ein Ort ohne Geschichte. Er kennt keine Saison, keine Jahrgänge, Tabellen oder Torschützenlisten. Ihm fehlen die Strukturen anhand derer man die dortigen Geschehnisse einordnen könnte. Vielmehr ist der Bolzplatz ein Ort spontaner Erfahrungen und intensiver Erlebnisse, die sich mehr oder weniger lose in der eigenen Erinnerung festsetzen. Das "legendäre Volleytor" oder das "einzigartige Dribbling" bleiben vielen Bolzplatzprotagonisten ein Leben lang vor Augen, ohne dass auch nur einer von Ihnen diesem individuellen Ereignis ein konkretes Jahr oder gar einen genauen Tag zuordnen könnte. Daraus erklärt sich die fast mythenhafte Verehrung, die dem Bolzplatz heutzutage entgegengebracht wird.
"Wir gingen raus und spielten Fußball" des Journalisten und Publizisten Andreas Bernard beschreibt genau dieses Phänomen auf sehr eindrückliche Weise. Der Autor macht in seinem Buch den Bolzplatz zum Ausgangspunkt und zugleich zur Konstanten seiner eigenen Kindheit. Der "Gummi", wie der mit Tartan belegte Fußballplatz in seinem Stadtteil genannt wurde, wird für ihn und seine Mitspieler für eine Dekade zwischen Kindes- und Erwachsenenalter zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebens und formt sein Denken dabei maßgeblich.
Meisterhaft und mit einer fast analytischen Präzision arbeitet Bernard die kulturellen Phänomene heraus, die den Mikrokosmos "Bolzplatz" so besonders machen. Eigentümliche Rituale wie "Piss-Pott", Spielformen wie "Hoch rein" oder auch die Frage, warum auf dem Bolzplatz eigentlich nie jemand eine Wasserflasche bei sich hatte, werden dabei unterhaltsam erklärt und zugleich in ihren regionalen oder lokalen Kontext eingeordnet. Ausgehend von diesen kindlichen Erfahrungen auf dem kleinen, versteckten Platz mit den Handballtoren schildert der Autor sein Erwachsenwerden aus der Perspektive des Fußballs.
Es mag Zufall sein, dass Bernard seine Bolzplatzkarriere und damit auch seine Geschichte mit der WM 1990 enden lässt, markiert dieses magische Datum doch den Beginn meiner eigenen Beziehung zum Bolzplatz und damit auch zum Fußball. Die fast identischen Anekdoten und Stereotype, die beim Lesen dieses Buches aus meiner Erinnerung hervorgekommen sind, beweisen jedoch auf beeindruckende Weise, wie universell und zeitlos das Phänomen "Bolzplatz" zu sein scheint. So lässt mich dieses Werk gleichsam nostalgisch wie auch ratlos zurück: Gibt es sie eigentlich heute noch, die Kindheit auf dem Bolzplatz?