Mats Hummels auf Parship
(2022/2023)Rezension: Mats Hummels auf Parship
Silvia MergenthalWir erzählen jeden Tag: Wie es auf der Arbeit oder in der Schule war, wann wir das erste Mal diese merkwürdigen Kopfschmerzen verspürten, wegen derer wir nun bei unserer Hausärztin sind, warum wir nicht damit rechnen konnten, dass das Auto, auf das wir gerade auffuhren, vor einer doch noch grünen Ampel plötzlich anhielt. Und in der Regel erzählen wir, ohne groß darüber nachzudenken, in der ersten Person. Nicht zuletzt deswegen haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich für die Ich-Erzählperspektive entscheiden, ein Problem, wenn sie uns als Leserinnen deutlich machen wollen, dass sie nicht mit den Figuren zu verwechseln sind, denen sie eine Stimme geben. Sie müssen gewissermaßen hinter dem Rücken ihrer Figuren mit ihrer Leserschaft kommunizieren – ein Wort, das Schiedsrichter Uwe Fertig, wir kommen noch zu ihm, aus seinem Wortschatz gestrichen hat und mir jetzt auch aus diesem Text streichen würde. Diese Kommunikation mit der Leserschaft findet vor einem Meinungs- oder Wertehorizont statt, den sich Autorinnen und Leser (anscheinend? oder doch eher scheinbar?) teilen: Von diesem Hintergrund heben sich die Figuren ab, entlarven sich selbst, aber wir müssen als Leserinnen auch mit ihnen fühlen können.
Brussigs Mats Hummels auf Parship versammelt drei Fußball-Monologe, "Leben bis Männer", "Mats Hummels auf Parship" und "Schiedsrichter Fertig". Ihre Ich-Erzähler sind drei Männer, alle drei vor der Wende im Osten Deutschland aufgewachsen: zwei namenlose Fußballtrainer in den ersten beiden Texten, der bereits erwähnte Schiedsrichter Uwe Fertig im dritten. "Fußball ist unser Leben" – das gilt für alle drei Brussig-Protagonisten: Zum einen erzählen sie ihre Lebensgeschichten an Fußball-Ereignissen entlang, von den eigenen Spieler-, Trainer- und Schiedsrichter-Karrieren bis hin zu den Meilensteinen von Länderspielen und großen Fußballturnieren, wobei insbesondere in den ersten beiden Monologen die spezifische Geschichte des DDR-Fußballs – das "Sparwassertor" in der Länderspielbegegnung der beiden deutschen Nationalmannschaften bei der Weltmeisterschaft 1974 sowie die "Abwicklung" des DDR-Fußballs nach 1989 – eine wichtige Rolle spielt. Fußball ist in diesen individuellen wie kollektiv erfahrenen Lebenssituationen immer auch der Raum, in dem wie mit einer Flutlichtanlage moralische Werte ausgeleuchtet werden. Zum anderen dient der Fußball den drei Figuren als Ausgangs- wie Endpunkt für ihre Gedanken zum großen Ganzen der Menschheitsgeschichte (Was hat Fußball mit Evolution zu tun?) oder der Weltpolitik (Was lernen wir von der Art und Weise, wie ein Land Fußball spielt, über den "Nationalcharakter" dieses Landes – oder auch umgekehrt: Wie beeinflusst der "Nationalcharakter" die Art und Weise, wie die Nationalmannschaft eines Landes Fußball spielt?). In diesen Gedankengängen sind sich die ersten beiden Figuren, also die beiden Trainer, die auch biographische Details wie ihre Herkunft aus der (sachsen-anhaltinischen) Landschaft der Börde miteinander teilen, bis in die Wortwahl hinein sehr ähnlich: Brussig selbst schreibt hierzu im Vorwort zum Band, dass "der Typ, damals [das heißt, 2001] ‚Wendeverlierer‘, inzwischen [also 2022] ‚Wutbürger‘" habe erhalten bleiben sollen, "nur sollte er sich an heutigen Themen abarbeiten". Schiedsrichter Uwe Fertig, der eloquenteste, aber auch pedantischste der drei, ist hingegen eher ein Wendegewinner, erfolgreich als FIFA-Schiedsrichter wie Versicherungskaufmann. Fertig steht natürlich, aus der Spieler- und Trainerperspektive der ersten beiden Sprecher betrachtet, auf der anderen Seite, eine Position, in der er gerade dadurch gelangt, dass er auf dem Spielfeld eben auf keiner Seite zu stehen hat.
"Leben bis Männer" (der Titel verdankt sich dem Umstand, dass der Sprecher die Fußballer eines Kombinats von der Kinder- über die Jugend- bis hin zur Männermannschaft trainiert hat) entwickelte sich, wie Brussig im Vorwort des Bandes schreibt, von einem durch die EXPO 2000 in Hannover angeregten 15-minütigem Monolog zu einem abendfüllenden Ein-Personen-Stück, das erstmals 2001 aufgeführt wurde. Wie auch "Mats Hummels auf Parship" – 2022 zur Fußballweltmeisterschaft in Katar entstanden – enthält "Leben bis Männer" rudimentäre szenische Elemente; dazu gehören Szenen- und Regieanweisungen sowie ein imaginiertes Publikum, in "Mats Hummels auf Parship" etwa die Gäste in einem Vereinsheim, die sich zu einem Public Viewing eingefunden haben. Da die ursprüngliche Produktion von "Mats Hummels auf Parship" zusammen mit einer tatsächlichen Fernsehübertragung aus Katar stattfand, hält Brussig in diesem Text auch situativ einsetzbare Texthülsen zu "Videobeweis", "Standardsituation" und "böses Foul/Verletzung" bereit, wie wir sie alle schon von vielen Trainern/Spielern/Fußballreportern gehört haben, und entlarvt nebenbei den formelhaften Charakter mancher dieser Äußerungen. Die Titelfigur von "Schiedsrichter Fertig" schließlich, deren Namen sicher nicht ganz zufällig an Giovanni Trappatonis legendäre "Ich habe fertig"-Pressekonferenz erinnert, verdankt seine Entstehung im Jahr 2007 der Reihe "Eine Litanei" des Residenzverlages, in dem auch die Werke des notorischen Grantlers Thomas Bernhard erschienen sind und der seiner Verlagsbroschüre zufolge Autoren einlädt, "sich Luft zu machen, Klartext zu reden, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Jammern ist eine Kunst…".
Falls sich an dieser Stelle die Frage aufdrängt, ob Mats Hummels wirklich auf Parship ist, hier die Antwort, im vielleicht komischsten Abschnitt aus der Titelgeschichte – bei dem einem aber das Lachen bald im Hals stecken bleibt: "Und sie wollen unbedingt nach ‚Europa‘, die Ukrainer. Das erinnert unsereinen irgendwie an die Parship-Werbung. Ich parshippe jetzt, sagen immer Typen wie – Na, Mats Hummels oder Scarlett Johansson. Wenn die Ukrainer von Europa träumen und dann nicht mehr Weihnachten sagen dürfen, dann ist das wie wenn sich ne Frau auf Parship verabredet, die von Mats Hummels träumt – aber wer lächelt sie dann an, beim Treffen im Café? Karl Lauterbach. Reingefallen!"
Auf der erzähltechnischen Ebene ist den drei Figuren gemeinsam, dass sie früh in ihren Monologen Themen miteinander verknüpfen, deren Stellenwert im Kontext ihrer jeweiligen Erzählungen sich nur ganz allmählich erschließt. Im Fall des Trainers in "Leben bis Männer" ist dies die Verbindung von Fußballtrainerinnen und Richterinnen: Wenig überraschend haben in den Augen des Sprechers beide keine Ahnung von dem, was sie tun, aber wir erfahren erst viel später, dass einer der Schützlinge des Trainers in einem Mauerschützenprozess von einer Richterin verurteilt worden ist. Hier greift Brussig im Übrigen, wie er erläutert, auf eine Reportage Christoph Dieckmanns zurück, der sich bei einem der ersten Mauerschützenprozesse mit dem im Gerichtssaal anwesenden Fußballtrainer eines der Angeklagten unterhielt und von ihm hörte, dass man "die Jungs" doch in Ruhe lassen solle, sie hätten ja nur ihre Pflicht erfüllt. Eine ähnliche, auf den ersten Blick ebenfalls überraschende Parallele zeigt Uwe Fertig im dritten Monolog auf, die zwischen einem Schiedsrichter und einem Chirurgen: Und auch hier müssen wir uns eine Weile gedulden, bis uns deutlich wird, dass zur gleichen Zeit, zu der Fertig hochkonzentriert Tatsachenentscheidungen auf dem Spielfeld trifft, seine große Liebe aufgrund einer falschen Tatsachenentscheidung ihres behandelnden Chirurgen eines qualvollen Todes stirbt. Etwas anders gelagert, aber in ihrer Funktion vergleichbar ist die zweifache Weigerung des Wutbürgers in "Mats Hummels auf Parship", sich zur Corona-Problematik zu äußern. Als er es dann doch tut, stellt sich heraus, dass er bei seiner eigenen Corona-Infektion nur knapp mit dem Leben davongekommen ist, seine Lebensgefährtin, von ihm angesteckt, hingegen nicht: Beide waren, wie es sich für Wutbürger gehört, ungeimpft.
Wutbürger sind nun allerdings, auf ihre je spezifische Weise, alle drei Protagonisten von Thomas Brussigs Fußballmonologen: rassistisch, sexistisch, in ihrem Habitus wie in ihren politischen Ansichten am rechten Rand des Spektrums angesiedelt. Oder doch eher potenzielle Wähler einer – noch zu gründenden – "linkskonservativen" Partei? Jedenfalls sind sie nicht nur in ihren Äußerungen zu Gendersternchen und Binnen-I Mitglieder der Fraktion derer, die lautstark darauf bestehen, dass man bestimmte Dinge doch noch sagen können, ja dürfen, müsse. Und hier schlägt dieser Text den Bogen zurück zu seinem Anfang: Mit wem teilen wir denn eigentlich den Meinungs- oder Wertehorizont, von dem aus wir Brussigs "Wutbürger" beurteilen? Dass wir uns diese Frage immer wieder stellen müssen und aus Brussigs Texten keine eindeutige Antwort ableiten können, ist die Schwäche von Mats Hummels auf Parship – und gleichzeitig seine größte Stärke: Wie es sich eben für ein Fußballbuch des Jahres gehört.