"Der Fußball hat echt viele Baustellen."

Gesellschaftsspiele e.V. steht für Antidiskriminierungs- und Bildungsarbeit im Kontext von Fußball und Fankultur. Ein bunter Haufen von fußballverrückten Personen, die sich in Berlin und mittlerweile auch darüber hinaus rund um den Fußball engagieren. Die "Basisarbeit" bilden dabei vor allem Veranstaltungen in Berlin: Lesungen, Diskussionsrunden, Workshops oder die Mitarbeit bei einschlägigen Fußballkulturveranstaltungen wie dem 11 mm Fußballfilmfestival oder den Respect Gaymes des LSVD. Darüber hinaus ist der Gesellschaftsspiele e.V. in der Bildungsarbeit aktiv, organisiert Workshops mit Fußballbezug an Schulen.

"Fußball ist für alle da", das Jahresthema der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur, hat jede Menge Facetten. Inwiefern sich Gesellschaftsspiele e.V. als Verein dieser Sache verschrieben hat, haben wir die Verantwortlichen gefragt.

Die Akademie hat sich das Jahresthema "Fußball ist für alle da" gegeben. Würdet ihr das so unterschreiben, ist der Fußball wirklich für alle da?

Als Verein setzen wir uns dafür ein, dass Fußball so verstanden wird. Ein Spiel, das für alle da ist. Leider ist es jedoch die Realität, dass Fußball nicht für alle gleichermaßen erlebbar ist. Ein Besuch im Stadion hat Barrieren. Das zeigt sich durch mangelnde Zugangsmöglichkeiten für Menschen mit körperlichen Behinderungen, aber auch durch Queerfeindlichkeit, Antiziganismus oder andere Diskriminierungsformen die immer noch im Stadion verbreitet sind. Deshalb ist es leider die Realität, dass viele marginalisierte Gruppen der Gesellschaft zumindest in den oberen Ligen, bisher nicht stattfinden können. Klar ist aber auch, dass der Fußball in den letzten 20 Jahren auch durch die wichtige Arbeit von aktiven in den Kurven und den Aufbau von Strukturen viel inklusiver geworden ist und mehr Teilhabe als früher ermöglicht.

Woran muss aus eurer Sicht primär gearbeitet werden?

Da könnte vermutlich jedes unserer Vereinsmitglieder eine jeweils eigene und sinnvolle Antwort geben. Der Fußball hat echt viele Baustellen und gleichzeitig gibt es viele großartige Initiativen die versuchen einen inklusiveren Fußball zu ermöglichen. Dabei sollten wir weniger darauf achten was Priorität ist, sondern vor allem darauf, dass diese unterschiedlichen Strukturen dauerhaft gestärkt werden. Hier müssen Unterstützung gesichert, Freiräume und Kapazitäten gezielt vor Ort aufgebaut werden.

Wie setzt ihr als Verein euch konkret für eine bessere Fußballwelt ein?

Wir hoffen Menschen auf niederschwelligen Wegen zu erreichen und dabei deren Blick auf Dinge zu verändern oder ein Nachdenken anzustoßen. Bei unseren Veranstaltungen geht es immer um Fußball und Fankultur. Dieser kleinste gemeinsame Nenner bringt Menschen dazu unsere Veranstaltung zu besuchen. Mit unseren Projekten und Austauschen fördern wir den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, wollen interkulturellen Austausch anregen und sind auch selber offen für neue Blickwinkel. Daneben haben viele unserer Mitglieder Bereiche in denen sie sich besonders engagieren (z.B. Nachhaltigkeit, Erinnerungsarbeit) und dabei gleichzeitig die Ansichten des Vereins repräsentieren. In letzter Zeit beispielweise die Sichtbarmachung des jüdischen Mäzens und Zeitungsverlegers Rudolf Mosse für die Entwicklung des Geländes des heutigen Jahn-Sport Parks in Berlin oder als Teil der Boycott Qatar 2022 Initiative, die sich kritisch mit der kommenden Weltmeisterschaft und ihrem Austragungsort auseinandersetzt.

Wie bewertet ihr allgemein die Zeiten für den (Profi-)Fußball? In der Pandemie wurde ja Besserung in vielen Bereichen gelobt. Hat sich etwas in die richtige Richtung bewegt?

Das Fazit fällt hier sehr ernüchternd aus. Es wurden wirklich viel Arbeit und gute Ideen für eine echte Erneuerung des Fußballs mit zahlreichen auch unterbeleuchteten Aspekten hervorgebracht (z.B. Nachhaltigkeit oder ein integrer Wettbewerb). Hier sind insbesondere Unser Fußball oder Zukunft Profifußball hervorzuheben. Aber die Akteure der Profiligen sind längst wieder zum Business as usual und dem weiteren Kapitalisieren des "Produkts Fußball" übergegangen. Rückblickend hat man den Eindruck, alles Reden über Maßhalten und Reformen hat einzig und allein dem Zweck gedient, Spielausfälle zu verhindern. Denn der Ball musste rollen, egal ob mit oder ohne Zuschauer*innen, Hauptsache im Fernsehen, sonst drohte die Pleite.

Die nächste Krise beschäftigt uns alle aktuell. Ihr habt gute Kontakte in die Ukraine. Welche Projekte habt ihr in der Vergangenheit realisieren können? Und viel wichtiger: Wie geht es euren Ansprechpersonen vor Ort? Könnt ihr aktuell Hilfe leisten? 

Uns geht die Situation schon sehr nahe. Wir haben 2018/19 einen ukrainisch-deutschen Fan-Austausch im Bereich Fußball und Erinnerungskultur organisiert. Die Teilnehmer*innen stammten aus unterschiedlichen Orten in Deutschland und der Ukraine, zwei davon kamen aus Charkiw. Die beiden hatten die ersten Kriegstage in einem Keller verbracht und konnten dann zum Glück mit dem Zug unbeschadet fliehen. Sie sind mittlerweile über Kontakte in der Nähe von Nürnberg gelandet, der Partnerstadt Charkiws. Ein großer Teil der Teilnehmenden ist noch in der Ukraine. Als Männer im Alter zwischen 16 und 60 dürfen sie nicht ausreisen. Mit einigen schreiben wir regelmäßig. Man kann sich trotz der Fernsehbilder hier nur schwer vorstellen, wie brutal dieser Krieg wirklich ist.

2020 wurdet ihr von der Akademie für die Fußball-Utopie des Jahres ausgezeichnet. Eine Utopie hat ja erstmal keinerlei Anspruch, Wege zu ihrer eigenen Verwirklichung darzulegen. Konntet ihr trotzdem Fortschritte auf dem Weg zu einem besseren Fußball erzielen?

Für unsere kleine Utopie-Arbeitsgruppe war der Preisgewinn ein echter Ansporn. Von unserer Grundidee eines genossenschaftlich organisierten und gerechteren Fußballs ausgehend, haben wir zum Beispiel eine Muster-Satzung für Fußballgenossenschaften entwickelt. Hierzu sind wir aktuell auch in einem Briefwechsel mit dem DFB getreten. Bisher ist es leider wohl nicht möglich als Fußballgenossenschaft am Spielbetrieb in Deutschland teilzunehmen. Außerdem wollen wir mit der Veranstaltungsreihe "Sommer der Fußballutopien" weiter über Utopien im Fußball nachdenken. Mehr Infos dazu gibt es auf unserer Website.

Mit der WM in Katar steht am Jahresende das vielleicht umstrittenste Sportgroßereignis überhaupt an. Habt ihr Pläne zur Begleitung dieses Turniers?

Wie viele andere Fußballfans haben wir absolut keinen Bock auf die kommende WM. Wir sind von Beginn an Teil des Netzwerks Boycott Qatar 2022. Unser Ziel ist es, den Scheinwerfer auf die Schattenseiten des Gastgeberlandes und der FIFA zu lenken. Anstatt die Spiele zu schauen, werden wir kritische Podiumsdiskussion organisieren und im Rahmen der Aktion #Back2Bolzen auch selbst Fußball spielen.

In Anbetracht all dieser Tatsachen: Wie gelingt es euch, trotz allem tatkräftig zu bleiben und optimistisch in die Zukunft zu blicken?

Jede*r von uns hatte mal Tiefen und stellt das System Fußball in Frage. Glücklicherweise aber nie alle gleichzeitig. Durch Austausch und unsere Gemeinschaft gleicht sich das sehr gut aus. Wir fahren auch mal nur als Gruppe zum Fußball oder machen andere Dinge einfach, weil es Spaß macht. Vor Covid haben wir uns in Arbeitsgruppen, Kernteamtreffen oder beim Vorstand annähernd jede Woche gesehen und auch als Freund*innen zusammengesessen. Danach mehr als 24 Monate nur noch digital. Trotz der Umstände haben wir virtuelle Veranstaltungen geplant und konnten auch neue Mitglieder begrüßen. Im Grunde ist das Gefühl jetzt, als ob wir alle unsere Patina abstreifen und unsere zugewachsenen Räume gemeinsam für den Sommer klarmachen. Und Fußball ist immer noch wichtig!

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