Geschichte

Afrikas Beste

Der Africa Cup of Nations 2008 ist Geschichte, Ägypten erneut Meister des Kontinents. Akademie-Mitglied Christian Eichler (FAZ) war in Ghana vor Ort - und zog direkt nach dem Turnier eine stimmungsvolle Bilanz.

Afrikas Beste

von Christan Eichler (FAZ)

 

Es war einmal 1974: Mwepu Ilonga

1974 kam Zaire als erstes schwarzafrikanisches Team zu einer Weltmeisterschaft. Die Entsandten des Diktators Mobutu mit seiner Leopardenfellmütze trugen erheblich zum Unterhaltungswert der WM in Deutschland bei. Etwa bei ihrem 0:9 gegen Jugoslawien. Noch mehr im Spiel gegen Brasilien in Gelsenkirchen, als sich ein eifriger Verteidiger namens Mwepu Ilonga seinen Platz in der Fußballgeschichte sicherte (übrigens am selben Tage, dem 22. Juni 1974, an dem das ein paar Stunden später und ein paar Kilometer weiter nördlich auch einem gewissen Sparwasser gelang).

Die Szene (s. YouTube) sah so aus: Freistoß nahe dem zairischen Strafraum, einige Brasilianer stehen lose um den Ball, Hände an die Hüften gestemmt; die Afrikaner brav in ihrer Mauer. Dann erklingt die Pfeife des Schiedsrichters, um wie üblich anzuzeigen, dass die Mauer nun den richtigen Abstand hat und der Freistoß ausgeführt werden kann. Nur Mwepu Ilonga versteht die Sache irgendwie falsch. Vielleicht entspricht sein Verhalten aber auch der damals in Afrika gültigen Regelauslegung, wer weiß das schon? Jedenfalls interpretiert er den Pfiff so, dass der Ball nun frei sei, er spurtet aus der Mauer los und hämmert ihn, vorbei an den unbewegt dastehenden Weltmeistern, in die gegnerische Hälfte. Resultat: eine der lustigsten Gelben Karten aller Zeiten. Auf den Rängen schlägt man sich auf die Schenkel, die kennen ja nicht mal die Regeln da unten. Stellt sich aber zugleich die besorgte Frage, die später Hardy Grüne in seiner „WM-Enzyklopädie“ festgehalten hat: „Wenn das die Besten Afrikas sind, wie sind dann die anderen?“

 

Der beste Afrika-Cup der Geschichte

Sie sind ziemlich gut, heute jedenfalls. Und immer noch lustig anzuschauen, und das anders als damals: ganz ohne Slapstick. Denn schön war Afrikas Fußball schon immer. Nun ist er auch vernünftig geworden. Und beides passt zusammen, das ist das Fazit des 26. Afrika-Cups, des nach einhelliger Meinung besten der Geschichte. Mit dem ägyptischen Kollektiv, das Kamerun 1:0 besiegte, fand er einen logischen Sieger. Ägypten war das am feinsten abgestimmte, am flüssigsten eingespielte, das am besten auf modernen, vernetzten Fußball programmierte Team. Taktisch dominierte Hassan Shehatas Mannschaft mit einem anspruchsvollen 3-4-1-2-System, während sein 70-jähriger deutscher Gegenpart Otto Pfister damit kokettierte, „sich nicht um Taktik zu scheren“. Warum? „Weil am Ende nur die individuelle Klasse der Spieler entscheidet“. Am Ende entschied der individuelle Blackout des Kapitäns und früheren Kölners Rigobert Song das Finale – er ließ sich den Ball vom Hamburger Mohamed Zidan abluchsen, dessen Querpass verwertete Mohamed Aboutreika zum Sieg.

 

Disziplin und bildschöne Tore

„Nach dem Turnier werden die Leute Afrikas Fußball in einem ganz anderen Licht sehen“, so hatte Lee Rosenior, ein früherer Premier-League-Profi und Nationalspieler aus Sierra Leone, vorhergesagt und sich damit als Prophet erwiesen: „Sie werden sehen, wie gut afrikanische Spieler sind, dass sie diszipliniert sind und Verantwortung übernehmen können.“ Das dreiwöchige Turnier in Ghana machte mit vielen guten Spielen, bildschönen Toren (insgesamt 99 in 32 Partien) und vor allem einer neuen, durchgängig hohen defensiven Disziplin einen großen Sprung nach vorn. „Der Afrika-Cup ist jetzt auf einem Level mit Südamerika- und Europameisterschaft”, urteilte Frank Arnesen, Sportdirektor des englischen Topklubs FC Chelsea, der gleich zwei Scouts nach Ghana geschickt hatte. „Vor zehn oder fünfzehn Jahren kannte man nur ein paar Spieler aus jeder Elf. Heute kennst du sogar die elf auf der Bank.“

 

Eine Schatzkiste voll: Spieler zum Staunen

Eine Wundertüte ist der Afrika-Cup schon lange nicht mehr, aber ein paar funkelnde Juwelen waren immer noch drin für die, die genau hinschauten. Spieler zum Staunen: wie Guineas genialischer Spielmacher Pascale Feindouno vom AS St. Etienne; wie Aboutreika, der manchmal wie ein ägyptischer Vetter des großen Zidane wirkt (und noch in Kairo spielt); wie dessen ebenfalls noch in der ägyptischen Liga tätiger Mittelfeldkollege Hosni Abd Rabou, der als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet wurde und nun, erst 24 Jahre alt, in Europa umworben sein dürfte; wie der 21-jährige Anthony Annan, in Norwegen unter Vertrag und im defensiven Mittelfeld der Ghanaer eine der Entdeckungen des Turniers (Landsmann Michael Essien hat ihn prompt bei seinem Klub FC Chelsea empfohlen); wie sein Mannschaftskollege Junior Agogo, ein wuchtiger Angreifer, der in England in der zweiten Liga in Nottingham spielt, dort aber nun wohl nicht mehr lange bleiben dürfte. Oder wie der famose Angolaner Manucho, bei dem alle, die sein Können erst durch die Traumtore gegen Südafrika und Ägypten entdeckten, zu spät kamen – kurz vor dem Turnier hatte ihn Manchester United unter Vertrag genommen.

Nie war Afrikas Fußball so gefragt. Frankreichs Liga stellte wie immer den größten Anteil an Spielern, aber auch die Premier League hat den Kontinent entdeckt: Gerade acht Profis beim Afrika-Cup 2002 verdienten ihr Geld in England, 2008 waren es schon 35. Die Bundesliga stand ein wenig hinten an. Aber immerhin war es ein deutscher Klub, der als einziger schon vor dem Endspiel wusste, dass er nach dem Turnier einen heimkehrenden Afrika-Champion begrüßen durfte: der Hamburger SV. Er war mit dem Ägypter Mohamed Zidan und dem Kameruner Timothée Atouba bei beiden Finalisten vertreten.

 

Vom Platzwart, der den Rasen nicht mähte 

So gut die Organisation des Spiels in afrikanischen Teams geworden ist, so sehr schienen sich die Organisatoren des Turniers zu bemühen, die pittoresken Klischees vom unzähmbaren Schwarzafrika nach Kräften zu bedienen – in dem aber wie durch das übliche Wunder auch das größte Chaos die ansteckend lebensfrohe Stimmung der Menschen (und ihrer Besucher aus Europa) nicht verderben konnte. Es gab einen Platzwart, der den Rasen vor dem ersten Spiel nicht mähte, weil er schon für die Eröffnungsfeier abgedeckt war. Und ihn dann nicht wässerte, weil schon die Kapelle kam. Bei einem Spiel gab es einen Stromausfall, bei einem anderen eine stinkende, ölige Qualmwolke, die über das Stadion fiel. Es gab Pressekonferenzen, bei denen nicht die Trainer über den Lautsprecher zu hören waren, sondern Durchsagen über falsch geparkte Autos. Es gab die Website des Turniers, auf der die persönlichen Daten von Stars wie Drogba oder Essien veröffentlicht wurden – inklusive der Nummern ihrer Reisepässe, eine Einladung zum Missbrauch der Daten durch Betrüger im Internet.

 

Felix Katongo - kurioser "Man of the Match"

Und die ansonsten öde und nur der Präsentation eines Sponsors dienende Auszeichnung für den „Man of the Match“ (üblicherweise einer aus dem Siegerteam) und für den „fairsten Spieler“ (einer von den Verlierern) wurde dann doch einmal lustig: als nämlich in Folge einer absurden Verwechslung der zweifache Kameruner Torschütze Job den Fairplay-Preis erhielt und dafür der Kollege Felix Katongo aus Sambia als „Man of the Match“, als überragender Mann auf dem Platz, geehrt wurde – nachdem sein Team gerade 1:5 verloren hatte. Katongos Blick, als er die klobige Trophäe erhielt, war unvergesslich: Er glotzte sie an wie einer, der sechs Richtige im Lotto hat, obwohl er gar keinen Schein abgab. Es war ungefähr so, als hätte man 1974 den zairischen Freistoßexperten Mwepu Ilonga zum „Man of the Match“ gemacht (eine Auszeichnung, die es damals zum Glück noch nicht gab).
Aber hey, wäre es denn nicht richtig gewesen? Ilonga war Mann des Spiels, er hat sich gegen Brasilien bleibenden Ruhm erworben, an die anderen Spieler und Spielszenen aus Gelsenkirchen erinnert sich kein Mensch. An die Spieler und Spielszenen aus Ghana werden sich viele erinnern.

Christian Eichler

Christian Eichler ist Fußballbuch-Autor und Sportkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Schwerpunkt: Fußball, insbesondere England. Den Afrika-Cup erlebte er live in Ghana. Christian Eichler ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. 2006 und 2007 war er satirefester Mitspieler der Jury zum Fußballspruch des Jahres.

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