Weltmeister ohne Talent
mein Leben, meine Karriere (2017/2018)Rezension: Weltmeister ohne Talent - Mein Leben, Meine Karriere
Anna Kemper / Die ZeitIm März 2018 gab Per Mertesacker ein Interview. Er erzählte, wie sich ihm vor jedem Spiel der Magen umdreht. Wie schwer es ist, diesen Druck auszuhalten, immer abliefern zu müssen. Wie erleichtert er war, als die WM 2006 für die deutsche Mannschaft zu Ende war. Dass er mittlerweile ganz gern auf der Bank oder der Tribüne sitzt.
Etwas Unerhörtes war passiert: Ein Spieler spricht offen über seine Schwächen. Kurz waren Empörung und Beifall laut, aber dann passierte das, was oft im Fußball passiert: Mertesackers Interview hätte der Anstoß sein können für eine breite Diskussion, aber das Thema verschwand wieder, als wäre es nie aufgekommen.
Der andere Blick auf den Fußball
Kurz darauf erschien per Mertsackers Biographie, die er zusammen mit Raphael Honigstein geschrieben hat. Vieles darin ähnelt anderen Fußballer-Biographien: Nette, lustige Einblicke und Anekdoten, wie die Busfahrten zum Stadion, bei denen Sitznachbar Tim Wiese abergläubisch den immer gleichen Dialog mit Mertesacker führen wollte. Dass Oliver Bierhoff ihm die Buddenbrooks zu lesen gab. Wieviel Zauber eine einzige Ballberührung in einem Spiel haben kann, wenn es das WM-Finale ist. Aber besonders macht Mertesackers Biographie eben sein Blick für das, was im Fußball nicht gut läuft.
Für die kleinen, großen Dramen am Rand, wie die Geschichte eines brasilianischen Mitspielers, den das Wetter in Bremen wirklich kaputt machte. Wie er als junger Fußballer bei Hannover 96 beim Derby gegen Braunschweig versteht, dass man im Fußball nicht nur den Gegner besiegen muss, sondern auch die eigene Unsicherheit. Wie sehr ihn der Tod von Robert Enke mitgenommen hat.
Ein Plädoyer für den mündigen Fußballer
All das, das schreibt Mertesacker immer wieder, lässt sich besser aushalten, wenn man weiß, dass Fußball nicht alles im Leben ist. Deshalb weist seine Biographie über ihn selbst hinaus: Es ist ein Plädoyer für den mündigen Fußballer. Mertesacker hat noch als Nationalspieler nebenbei seinen Zivildienst in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt absolviert. Solche Einblicke über das Fußballerleben hinaus, schreibt er, haben die jungen Spieler heute nicht mehr.
Es ist eine grundsätzliche Kritik an einem System, das alles von den Spielern fernhält, sie in einer Blase einlullt, die nur noch aus ihnen selbst besteht. Und wenn man Mertesackers Buch liest, merkt man, wie wichtig dieser Blick übers Spielfeld hinaus ist: Für den Spieler selbst, und für den Erfolg der Mannschaft, die mündige Spieler braucht, Spieler mit einer Persönlichkeit, die auch außerhalb von Instagram ein Profil besitzt.
Nach der Lektüre weiß man, dass Mertesacker genau der richtige ist, um die Jugendakademie von Arsenal zu leiten. Und wünscht sich, dass dieses Buch überhaupt in den Fußballakademien verteilt und gelesen wird. "Profis denken eher zu wenig als zu viel über ihren Beruf nach", schreibt Mertesacker. Er hat es getan und lässt den Leser daran teilhaben. Deshalb ist seine Biographie für mich das Fußballbuch des Jahres.