Mon cher Albert
Fußball war unsere Leidenschaft (2017/2018)Übersetzt von Brigtte Große
Rezension: Mon cher Albert
Matthias LieskeLourmarin ist ein kleines, gern von Touristen frequentiertes Provence-Städtchen im Mittelgebirge Luberon. Der Literaturnobelpreisträger Albert Camus besaß hier in den letzten Jahren seines Lebens ein Haus, und auf dem kleinen Friedhof etwas außerhalb des Ortes ist er auch beerdigt. Es handelt sich um ein recht unscheinbares Grab nahe der Friedhofsmauer, und es ist kein Wunder, dass Abel Paul Pitous im Jahr 1971, elf Jahre nach dem Autounfall, bei dem Camus ums Leben kam, große Mühe hat, die letzte Ruhestätte seines Jugendfreundes zu finden. Schließlich verfügt er noch nicht über ein Smartphone, das die genaue Lage dankenswerterweise anzeigt, sondern muss ein einheimisches Pärchen zu Rate ziehen. Der Besuch des Grabes weckt Erinnerungen an die gemeinsamen Zeiten und inspiriert Pitous dazu, einen Brief an den toten Camus zu schreiben: "Mon cher Albert". Im Wesentlichen handelt der Brief vom Fußball.
Fußball spielte immer eine wichtige Rolle für den Schriftsteller, Dramatiker, Publizisten und Philosophen. Auch wenn sein berühmter Satz, dass er alles, was er über Moral und menschliche Verpflichtungen wisse, dem Fußball verdanke, mit Vorsicht zu genießen ist. Schließlich stammt das Zitat aus einem Essay, den er für die Verbandszeitschrift seines einstigen Klubs Racing Universitaire d’Alger (RUA) schrieb und der später in einer Jubiläumsschrift des französischen Fußballverbandes erschien, beides Publikationen, in denen es vornehmlich darum ging, der Sportart zu huldigen. Die Erinnerungen von Pitous über die sportlich geprägten Jugendjahre in Algier untermauern allerdings besagte These, auch wenn Camus den Freund, der auf einem berühmten Mannschaftsfoto neben ihm kniet, in seinem Essay nicht erwähnt, dafür aber einen ominösen Wasserballspieler.
Camus war als Torwart eine Koryphäe
Die fußballerischen Karrieren der beiden Protagonisten waren kurz, bei Camus gleich nach den Juniorenjahren beendet durch eine Tuberkuloseerkrankung, bei Pitous durch den harten Arbeitsalltag, in den er nach der Fachschule einsteigt. Anfang der Dreißigerjahre verlieren sie sich gänzlich aus den Augen. Zuvor jedoch bestimmt der Fußball einen großen Teil ihrer Freizeit, erst spielen sie zusammen, später, als der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Camus dank der Förderung eines Lehrers ans Gymnasium darf und beim Studentenklub RUA das Tor hütet, meist gegeneinander. Der Skeptiker Camus erinnert sich in seinem Essay, der "Mon cher Albert" als Anhang beigefügt ist, eher an die rauen, amoralischen Seiten des Sports, die Tritte, Hiebe und Bodychecks, die er als Torwart einstecken muss, zumal als Torwart eines akademisch orientierten Teams, das vorzüglich zum Aggressionsabbau der weniger privilegiert aufgewachsenen Sportskameraden taugt. Pitous hat eine optimistischere Sicht auf die Dinge und widmet sich den schönen Momenten.
Liebevoll beschreibt er das Milieu ihrer kleinen Clique im ärmlichen Viertel Belcourt, karikiert mit Sympathie den größeren Sprachfehler des Onkels von Camus, der als Böttcher arbeitet, und auch den kleineren der alleinerziehenden Mutter. Er entwirft das Bild eines hyperaktiven und kreativen Teenagers Camus, der bei ihren Streifzügen auf den Straßen von Algier Gedichte improvisiert, Lieder singt, ganze Dramen aufführt und gern auch Passanten verspottet, bevorzugt Nonnen, Priester und junge Mädchen. Dies alles so charmant, dass ihm niemand böse sein konnte. Behauptet jedenfalls Pitous. Als Torwart war Camus offenbar eine echte Koryphäe, weshalb ihn Pitous, der auch nicht vergisst, seine eigenen Talente als Stürmer ins rechte Licht zu rücken, kurzerhand für ein wichtiges Match seiner Mannschaft gegen ein höherklassiges Team anwirbt. Der Außenseiter geht in Führung, wird dann aber vom parteiischen Schiedsrichter schamlos benachteiligt. Als ihnen ein klares Tor aberkannt wird, protestieren die Spieler sehr stilvoll, indem sie den nächsten Angriff des Gegners einfach laufen lassen, als Letzter winkt Camus den gegnerischen Stürmer am Elfmeterpunkt mit gezogener Mütze durch und lädt ihn zum Torschuss ein. Moral und menschliche Verpflichtungen eben.
Es ist ein hübsches kleines Buch, das eine längst vergangene Zeit und ein längst vergangenes Algerien heraufbeschwört und eine Freundschaft feiert, die vom Fußball geprägt ist, ihn jedoch nicht überdauert. Immerhin verspricht Pitous in seinem Brief, dass er sich nun endlich den Werken des einstigen Mitstreiters widmen werde, von denen er, wie er gesteht, bis dahin keine Zeile gelesen hat.