Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie
Mythen und Helden, Massenkultur und Proteste (2013/2014)Die Rezension zur Nominierung
Stefan ErhardtDie Meldungen aus den Grauzonen hinter den Kulissen des schönen WM-Scheins vor dem Anpfiff zum schönsten aller Weltmeisterschaftsturniere waren zahlreich. Tagtäglich vermeldeten sie nichts Gutes: Tote, Verletzte und jede Menge Baustellen; denn wie schon beim Confed-Cup 2013, begehrten mehr und mehr Menschen in Brasilien auf – gegen die exorbitante Geldverschleuderung durch die eigene Regierung, noch mehr durch Regionalpolitiker im Kotau vor der FIFA, gegen die schlechten bis schlimmen Lebenszustände, gegen Polizei und Militär, gegen die nicht eingehaltenen Versprechen für die Verbesserung von Infrastruktur, Bildung und Gesundheitswesen. Letztlich gegen die „FIFA-WM“, die im Übrigen so teuer war wie es die drei Turniere vorher zusammen gewesen sind.
Dass in Zeiten weitläufig verbreiteter und zugänglicher Informationen eine solche Diskrepanz und viele weitere Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten nicht mehr unter einer Decke gehalten bzw. kontrolliert werden können, liegt auf der Hand. Das Autorenteam um Gerhard Dilger, Thomas Fatheuer, Christian Russau und Stefan Thimmel zeigt genau diese Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf: einerseits die Utopie eines Brasilien, das mit seinen Mythen und Helden neue Leuchtfeuer für den Fußball und für das Aufstreben eines Schwellenlandes entzünden möchte; andererseits der Widerstand gegen Korruption und falsche Versprechen, der sich in Massenprotesten und lautstarken Forderungen niederschlägt. Und allzu oft von Polizei und Militär undemokratisch niedergeschlagen wurde und wird.
Die Hintergründe, historischen Voraussetzungen, gesellschaftlichen Entwicklungen sowie die vielen Schieflagen beleuchtet das Buch in zahlreichen mal knapperen, mal längeren Aufsätzen, die schlaglichtartig ein Gesamtbild des gegenwärtigen Brasilien entwerfen. Nun könnte man diese Bestandsaufnahmen auch der Tageszeitung oder dem Netz entnehmen; eine derart gut konzentrierte Übersicht über den Stand der Un-Dinge findet sich jedoch nur schwer.
Das liegt nicht nur daran, dass die Autoren allesamt sehr gut bewandert in ihren Materien sind; es ist die Grundhaltung, die über bloße Zustandsbeschreibungen hinausgeht. So stellen gleich zu Beginn die Herausgeber polemisch fest: „[…] und wer hätte das gedacht: Das angeblich so fußballbegeisterte Brasilien ist nicht einfach glücklich und dankbar, die Weltmeisterschaft der Männer 2014 ausrichten zu dürfen“. Das setzt den Ton für das gesamte Buch: es geht ihm darum zu zeigen, was „Der Fußball“ mit und aus einem Land gemacht hat.
Damit setzt es Brasilien stellvertretend für alle Länder der FIFA-„Familie“; letztlich legt es den Finger in eine Wunde, die lange schon schwelt – die Ausschlachtung des schönen Spiels durch immer stärkere Vermarktung, seine Vereinnahmung durch Investoren und Gierschlunde, seine Instrumentalisierung für eine gigantische Geldmaschine, die einige sehr reich macht, sehr viele aber grundlegender Dinge für ihr Leben beraubt. Nicht umsonst bewarb die taz dieses kritische Begleitbuch zur WM mit dem Slogan „Eine Zwangsumsiedelung dauert 90 Minuten.“
Warum das Buch auch nach dem Ende des Turniers in Brasilien lesenswert ist? Weil mit der Lektüre letztlich klar wird, dass fortan beim Sprechen über den kapital-kommerziell organisierten Fußball EINE Frage stets aufs Neue gestellt werden muss: In Abertausenden von Stadien werden Fußballspiele ausgetragen – aber auf wessen Rücken?