90 oder Die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen
(2017/2018)Rezension: 90 oder die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen
Ludger SchulzeNatürlich ist das ein Buch für alle Fälle. Den schönsten Fall aber darf man sich in etwa so vorstellen: ein kalter Winterabend, drinnen ist es kuschelig warm am Kamin mit den prasselnden Holzscheiten, man schlägt die erste Seite auf, im selben Moment hebt sich der imaginäre Vorhang und das Kopfkino beginnt mit einem faszinierend bunten, hochspannenden und allemal preiswürdigen Film. Der Titel „90 oder Die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen“ erinnert nicht von ungefähr an Jules Vernes "Reise um die Erde in 80 Tagen", darum geht es ja: um eine Expedition in die Welt des Fußballs, eine Zeitreise von den Anfängen im Jahr 1863 bis ins Heute. Damals vor gut 150 Jahren trafen sich elf Gentlemen in "Freeman`s Tavern" in London, um endlich einheitliche, verbindliche Regeln für alle die fußballartigen Spiele zu entwickeln, die es auf der Insel gab. Die erste Partie nach diesen neuen Richtlinien endete am 18. Dezember zwischen Barnes und Richmond mit einem derart langweiligen 0:0, dass niemand auf die Idee kommen konnte, hier könnte es sich um die Geburtstunde eines einzigartigen Massenfaszinosums handeln.
Als William "Fatty" Foulke mit Sheffield United 1902 vor 77.000 Zuschauern zum englischen Cup-Endspiel gegen den FC Southampton antrat, hatte sich das Spiel als gesellschaftliches Hauptereignis schon recht gut etabliert. Fatty war der exzellente Torwart von United und ein Mann, der seine Meinung bevorzugt mit Nachdruck und seinen mehr als 130 Kilo vertrat. Der Schiedsrichter, der den Keeper durch eine hanebüchene Fehlentscheidung beinahe um den Pokalsieg gebracht hätte, jedenfalls flüchtete vor dem wutschnaubenden Foulke in einen Besenschrank, ehe er von Helfern aus seiner misslichen Lage gerettet wurde.
Geschichte über ein 149:0, das Finale Dahoam und Stalin
Es sind skurrile Geschichten, bisweilen fast abseitige Geschichten, die dieses Buch so außergewöhnlich unterhaltsam machen. Unter ihnen ist das Finalspiel der madegassischen Meisterschaften von 2002 zwischen AS Adema und Stade Olympique de L’Emyrne (Titel: "Hauptsache, zu null") keinesfalls zu vergessen, das Adema mit 149:0 gewann. Natürlich erzählt Eichler auch die Spiele nach, die zum Kanon der Fußballgeschichte gehören. Das Wunder von Bern und andere WM-Endspiele, das "Finale dahoam", das hier zum „Pompeji dahoam“ wird, die großen Europapokal-Schlachten wie "das beste Spiel aller Zeiten", das Augenzeugen 1960 im Hampden-Park von Glasgow zwischen Real Madrid und Eintracht Frankfurt (6:3) gesehen haben wollen. Oder das grandiose Pokalfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln anno ‘73 (2:1 n.V.), als Günter Netzer sich in der Verlängerung von der Ersatzbank erhob und ohne Zustimmung von Trainer Weisweiler selbst einwechselte („Ich spiel dann jetzt“) – und die Borussia mit einem der irrsten Tore überhaupt zum Sieg schoss. Jeder Fußballverrückte kennt Verläufe und Resultate, Eichler aber gelingt es, das Altbekannte auf völlig neue Art, mit überraschenden Wendungen und häufig unerwarteten Protagonisten zu erzählen. Trotzdem fehlen natürlich auch die ganz Großen nicht, Beckenbauer, Pele, Cruyff, Maradona, Ibrahimovic oder Schweinsteiger.
Auch der Missbrauch des Fußballs durch die Politik wird thematisiert. Wie Nikolai Starostin, der bedeutendste Fußballer Russlands, mit seinen Mitspielern von Spartak Moskau, das als Klub des Volkes galt, 1936 auf dem Roten Platz dem brutalen Diktator Stalin vorspielen musste. Stalin hatte noch nie zuvor ein Fußballspiel gesehen, man wusste nur, dass es lebensgefährlich sein konnte, ihn zu langweilen. Starostin spielte groß auf, doch ein paar Jahre später wurde er dennoch wegen des fingierten Verdachts eines Mordanschlags auf Stalin zusammen mit seinen drei Brüdern zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Er überlebte nur dank seines Ruhms. Sogar ein richtiger Krieg wurde durch ein Fußballspiel ausgelöst, genauer durch ein Tor, das „Pipo“ Rodriguez für die Nationalmannschaft von El Salvador gegen Honduras schoss. Wenig später brach zwischen den beiden Ländern ein hundertstündiger Krieg aus, der letzte übrigens, der mit Propellerflugzeugen geführt wurde. Er forderte 2000 Todesopfer.
Christian Eichler, ein feiner Stilist unter den deutschen Sportjournalisten, hat all diese Fußballepisoden, ob heiter, tragisch, kurios, blutig dramatisch, läppisch, tödlich, surreal, blutig oder betrügerisch, mit unbändiger Lust am Erzählen und einer guten Portion Sprachwitz aufgeschrieben. Bedauerlicherweise schaffte man es kaum, das Buch in einem Zug lesen, dazu ist es mit 500 Seiten zu dick. Das ist aber auch alles, was stört.