Horst Hrubesch
Walther-Bensemann-Preisträger 2018
Eigentlich sollte das Rampenlicht längst aus sein für Horst Hrubesch. Selbst sein treuester Arbeitgeber hatte ihn bereits im August 2016 in den Ruhestand verabschiedet. "Er geht als ein Großer in die Geschichte des DFB ein, sowohl als Trainer als auch als Spieler. In dem Bewusstsein kann er sich mit jetzt 65 Jahren zurückziehen auf seinen Bauernhof in der Lüneburger Heide und seinen Hobbies frönen: Pferdezucht und Angeln." So war es nachzulesen auf der Verbands-Homepage, nachdem Hrubesch soeben mit dem Olympiateam des DFB bei den Spielen in Rio die Silbermedaille gewonnen hatte.
"Irgendwas kommt bestimmt noch", mutmaßte dagegen der designierte Rentner und sollte Recht behalten. Fünf Monate später wurde Hrubesch nach Hansi Flicks überraschendem Rückzug zum neuen DFB-Sportdirektor ernannt. Und wer gedacht hatte, der Umtriebige habe nun endlich alle infrage kommenden Jobs beim DFB durch, der wurde ein gutes Jahr später eines Besseren belehrt: Der Mann für alle Fälle schlitterte in die nächste Verbands-Vakanz und kehrte als Interimscoach der Frauen-Nationalmannschaft sogar noch einmal auf die Trainerbank zurück. Das Mädchen für alles lieferte auch bei den Frauen und sicherte souverän die WM-Qualifikation.
Der Spieler Hrubesch: Dynamik. Wille. Wucht.
Horst Hrubesch wurde oft unterschätzt in seiner langen Karriere. Zweifler waren im Grunde ständige Begleiter für den fußballerischen Spätzünder, anfangs auch Selbstzweifel. Wahrscheinlich gerade deshalb hat er angesichts seiner auf den ersten Blick überschaubaren Möglichkeiten eine unglaubliche Erfolgsbilanz vorzuweisen. Als Spieler wie als Trainer.
Dieser bullige Angreifer war nie der feinste Techniker. Hrubeschs Spiel war eher von einer ungemeinen Dynamik geprägt und von Wille und Wucht, irgendwie passend für einen gebürtigen Hammer. Dennoch wurde diesem Mittelstürmer in oberflächlichen Betrachtungen viel Unrecht getan. Schließlich erzielte das "Kopfball-Ungeheuer" bei weitem nicht alle seine Tore mit dem kantigen Schädel, sondern traf regelmäßig auch mit dem Fuß aus jeder Distanz. Allerdings hatte sich Hrubesch gerade in der Kopfballtechnik zu einem Angreifer der Extraklasse spezialisiert. Das Freilaufen, die Antizipation der Flanken, der Mut, das Timing, der Absprung, der Abschluss – nur dank Hrubeschs Perfektion muteten diese Szenen im Grunde leicht und einfach an. Darin steckten neben einem guten Schuss Talent eine deutlich größere Portion Fleiß. "Damals beim HSV musste er nach fast jedem Training noch eine Extra-Schicht machen. Flanken von links und rechts, Rübe hinhalten", erinnerte sich später Mitspieler Felix Magath, "Horst ist der beste Beweis dafür, dass es im Fußball keine Grenzen gibt."
Erfolge auf dem Rasen: Spätberufener Titelsammler
Die musste der Spätberufene auch selbst erst ausreizen. Sehr spät mit 24 Jahren ebnete ihm ein Tipp seines späteren Mitspielers Werner Lorant den Weg in die Bundesliga. Bis dahin hatte der Dachdecker gleichzeitig Handball und Fußball auf ambitioniertem Amateurniveau gespielt. Vom SC Westtünnen direkt zu Rot-Weiß Essen. Nach drei Jahren inklusive Ab- und Aufstieg und dem bis heute gültigen Torrekord der 2. Liga (41 Treffer in der Saison 1987/78) wechselte Hrubesch vor 40 Jahren zum Hamburger SV. Und musste sich unter all den Stars wieder neu beweisen. Und wie.
In fünf Jahren beim HSV wurde Hrubesch dreimal Deutscher Meister, einmal Torschützenkönig, einmal Europacupsieger der Landesmeister und erreichte zwei weitere Europapokalendspiele. Auch der Aufstieg zum Nationalspieler fiel in diese Epoche. 1980 schoss und köpfte Hrubesch mit seinen allerersten Länderspieltoren Deutschland zum EM-Titel, zwei Jahre später gehörte er bei der WM in Spanien zu den deutschen Vizeweltmeistern. Bei Borussia Dortmund und Standard Lüttich ließ er seine elf Jahre währende Profikarriere schließlich mit 35 Jahren ausklingen.
Zweite Karriere an der Seitenlinie – Über Umwege zum DFB
Um sie umgehend als Trainer fortzusetzen. Aber auch diese Laufbahn kam schwer in Gang. 2. Liga in Essen und Rostock, Oberliga mit dem VfL Wolfsburg, die großen Adressen im deutschen Fußball blieben dem Coach Hrubesch verschlossen. Nur ein kurzes Gastspiel bei Dynamo Dresden, zu dem man ihn hatte überreden müssen, weist Hrubesch als Bundesligatrainer aus. Sein einziger Fehler, wie er später bilanzierte.
Ihm fehlte die mediale Kompetenz und Eloquenz als Frontmann in der sich immer mehr abzeichnenden Kommerzialisierung des Fußballs. Eine Glitzerwelt, von der sich der hemdsärmelige Handwerkertyp nie blenden ließ. „Er ist sicher kein Akademiker des Fußballs, aber er spricht die Sprache der Spieler“, beschrieb später DFB-Präsident Egidius Braun den Mann, der der Branche so manche Stilblüte hinterließ ("Man lässt das alles noch mal Paroli laufen"; "Ich brauche nur dieses eine Wort sagen: Herzlichen Dank").
Also musste sich Hrubesch im Ausland bewähren. Zunächst bei seinem Lehrmeister Ernst Happel in Innsbruck, später in Wien und in Samsun in der Türkei. Erst der damalige Bundestrainer Berti Vogts ebnete Hrubesch den Weg zurück zum DFB. Zunächst als Co-Trainer der U16 und U17. Im Mai 1999 übernahm er als Chefcoach die neue A2-Nationalmannschaft, ein Engagement, das ihm ein Jahr später die Assistenz unter Bundestrainer Erich Ribbeck bei der verkorksten EM 2000 einbrachte. Oder einbrockte. Der Titelverteidiger scheiterte bereits in der Vorrunde und hatte alle Werte, die Hrubesch heilig sind und dessen Aufstieg zum Nationalspieler einst ermöglichten, vermissen lassen: Fleiß, Fitness, Teamgeist, bedingungsloser Wille, Vertrauen, Ehrlichkeit, Herz. Schlagworte, die alle seine vielen Rollen und Erfolge im Verband fortan prägen sollten.
Trainer, Ausbilder, Vaterfigur – Hrubesch hat im Junioren-Bereich Erfolg
Symptomatisch wie unvergessen das Foto, das den weinenden Hrubesch nach dem EM-Aus 2000 zeigte, dem Co-Trainer schien diese Blamage näher zu gehen als allen anderen Hauptdarstellern. "Ich finde keine Worte für das, was hier ablief. Ich bin geschockt, aber ich schäme mich meiner Tränen nicht", versicherte Hrubesch und half fortan im Juniorenbereich nachhaltig dabei, Generationen in vielerlei Hinsicht besserer Fußballer auszubilden.
Eher im Schatten der großen Scheinwerfer entfaltete Hrubesch seine ganze Stärke als Trainer und Ausbilder, der für viele seiner Schützlinge fast eine Vaterfigur wurde. Es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet er die nächsten EM-Titel gewann: 2008 mit der U19, 2009 mit der U21. Ein Kumpeltyp, aber mit glasklaren Vorstellungen, wie der Ball auf dem Platz und ebenso das Drumherum zu laufen hat. Da wurde es zuweilen auch laut und ungemütlich. "Er hat uns angeschnauzt und sofort wieder aus dem Dreck gezogen. So habe ich das noch nie erlebt. Ein super Mensch", huldigte ihm einst Manuel Neuer.
Die Talente um die späteren Weltmeister Neuer, Hummels, Özil, Boateng, Khedira und Höwedes waren zwar hochveranlagt, es fehlten aber die Hrubesch so wichtigen Komponenten und Kompetenzen. Mannschaftsgeist, Hierarchie, Konstanz, Verlässlichkeit. Unter Vorgänger Dieter Eilts hätte diese Truppe um ein Haar die Qualifikation zur EM verspielt, ein gutes halbes Jahr später gewannen sie in Schweden den Titel. "Wie auch als Spieler ist der Lange jetzt ein Trainer, den seine Überzeugungskraft stark macht. Er marschiert vorne weg, hat keine Angst, glaubt immer an den Erfolg und den Sieg", attestierte Magath, "er ist ein Kult-Typ".
Erst Olympia-Silber, dann die WM-Qualifikation als Bundestrainer der Frauen
Der trotz aller Erfolge die Bodenhaftung nie verlor und dank seiner authentischen, unaufgeregten und offenen Art den deutschen Fußball als Sympathieträger stets vorbildlich repräsentierte. Wie selbstverständlich stand der Europameister von 1980 auch jüngst auf der Uefa-Bühne, als Deutschland den Zuschlag für die Ausrichtung der Euro 2024 erhielt.
Noch weniger Zeit als mit der U21 blieb Hrubesch beim Projekt Olympia 2016. Unermüdlich ging er monatelang gemeinsam mit Flick bundesweit Klinken putzen, um den nicht eben abstellungswütigen Klubs überhaupt ein schlagkräftiges Aufgebot abzuringen. Diese zusammengewürfelte Truppe schweißte er dann innerhalb kürzester Zeit zu einem verschworenen Haufen zusammen, der nur knapp den Olympiasieg verpasste und erst im Elfmeterschießen des Endspiels von Gastgeber Brasilien zu bezwingen war.
Auch das nach der erfolgreichen WM-Qualifikation der Frauen vorgesehene Ende seiner Interimszeit wurde noch einmal bis Ende dieses Jahres verschoben, weil Nachfolgerin Martina Voss-Tecklenburg ihr Projekt in der Schweiz noch abschließen muss. Dann soll für Hrubesch endgültig Schluss sein. „Wenn ich jetzt nicht aufhöre, habe ich ein Problem, dann lässt sich meine Frau scheiden“, flachste der 67-Jährige neulich, "wir wären gerade eigentlich in Neuseeland, aber dann musste ich halt wieder einspringen. Neuseeland machen wir nächstes Jahr." Wenn nichts dazwischenkommt.
Michael Pfeifer