Christian Streich
Walther-Bensemann-Preisträger 2024
Begleittext zur Preisverleihung 2024 (zum Video)
Im Januar 2024 wird Christian Streich so deutlich wie nie zuvor. "Es ist fünf Minuten vor zwölf. Es braucht hinterher keiner klagen, der sitzen bleibt oder Sachen behauptet wie: 'Ein AfD-Wähler ist ein Protest-Wähler.' Wer es jetzt nicht verstanden hat, der versteht es nicht mehr. Der hat nichts verstanden in der Schule, als Geschichtsunterricht war." Streich sitzt im Pressekonferenzraum des Freiburger Stadions, als er diese Sätze formuliert. Eigentlich soll es um Fußball und das bevorstehende Bundesliga-Heimspiel gegen Union Berlin gehen.
Doch einen Tag zuvor hat das Recherche-Netzwerk Correctiv Geheimpläne von hochrangigen AfD-Politikern und Neonazis zur Vertreibung von Millionen von Menschen mit Migrationsgeschichte aus Deutschland enthüllt. Es bildet sich eine Protestwelle gegen Rechtsextremismus und gegen die rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme Partei AfD. Streich nutzt seine Bekanntheit und Reichweite für eindringliche Worte: "Jeder in diesem Land ist dazu aufgerufen, aufzustehen und im Familienkreis, an der Arbeit oder sonst wo sich ganz klar zu positionieren. Es soll keiner hinterher herumjammern, wenn er von einer autoritären, rechtsnationalistischen Gruppierung regiert wird, wo die freiheitlichen Grundrechte, die wir uns hart, hart erarbeitet haben nach diesem Desaster 1945, den Bach runtergehen. Jeder ist selbst verantwortlich." Wenige Tage später lief er in Freiburg bei einer Demo gegen Rechts selbst mit.
Streich hat sich während seiner zwölfeinhalbjährigen Amtszeit als Cheftrainer des SC Freiburg immer wieder zu Themen und Problemen abseits des Profigeschäfts geäußert. Nicht, um sich selbst darzustellen. Sondern in aller Regel, weil er von Journalisten danach gefragt wurde. Und, weil er es mit Blick auf seine Ausbildung auch als seine Bürgerpflicht ansieht, sich zu äußern.
Streich wächst im Drei-Ländereck mit der Schweiz und Frankreich in der elterlichen Familienmetzgerei auf und macht zunächst eine Lehre zum Industriekaufmann. Parallel zu seiner Zeit als Fußballprofi holt er auf einer Abendschule das Abitur nach und absolviert daraufhin ein Lehramtsstudium der Fächer Germanistik, Sport und Geschichte. Auch durch Gespräche mit Zeitzeugen beschäftigt er sich intensiv mit der Weimarer Republik, die den Nährboden für die verheerende Nazi-Herrschaft in Deutschland gebildet hat.
"Christian Streich hat sich immer wieder, gerade auch in diesem Jahr, gesellschaftspolitisch engagiert. Er war die klarste Stimme des Fußballs gegen die antidemokratischen Kräfte in unserem Land", begründet kicker-Chefredakteur Jörg Jakob die Wahl des Walther-Bensemann-Preisträgers 2024.
Über viele Jahre öffentlichkeitswirksam seine Stimme erheben – das konnte Streich natürlich nur, weil er in seinem Kerngeschäft hervorragende Arbeit abgeliefert hat. Mit seinen Mitstreitern in Trainerstab und Management führt er den früheren Schwellenverein zwischen 1. und 2. Liga viermal in den Europapokal sowie ins DFB-Pokal-Finale 2022 und korrigiert den einzigen Abstieg umgehend mit der Zweitliga-Meisterschaft 2016. Mit großer Hingabe, Empathie und teils auch polarisierender wie überschäumender Emotionalität entwickelt er seine 'Jungs' weiter, einige schaffen den Sprung in ihre jeweilige A-Nationalmannschaft.
Ab 1995 hat er erst als Jugend- und dann als Proficoach beim SC mit sehr hohem persönlichen Energieeinsatz die Freiburger Fußballkultur geprägt und gelebt, bis zu seinem selbstbestimmten Abschied zum Saisonende 2023/24. "Die Bundesliga verlor damit einen herausragenden, gleichsam immer auch bodenständigen Typen, der die Auswüchse und Fehlentwicklungen seiner Branche erkannte und benannte, ohne als Lautsprecher oder Besserwisser zu wirken", erklärt Jakob.
"Absolut glaubwürdig" vertrete und verkörpere Streich die Werte von kicker-Gründer Bensemann. Die Ehrung sei "ein Zeichen für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt" und zugleich "eine Anerkennung für die solide, professionelle, dabei aber maßvolle Arbeit des weithin geschätzten SC Freiburg." Mit und über Fußball die Menschen erreichen und bewegen – das konnte Streich wie kaum ein Zweiter. Auch wenn es dabei um einen sehr ernsten Appell ging.
Carsten Schröter-Lorenz