Oranje brillant
Das neurotische Genie des holländischen Fußballs (2007/2008)7,95 Euro
Rezension zu: Oranje brillant
Christof Siemes / Die ZEITOkay, das ist schwer verkraftbare Kost für deutsche Leser: Ein Engländer schreibt eine 363 Seiten lange Hommage an den holländischen Fußball. Und doch kann, soll, muss man sich reinbeißen in dieses Spiel, denn das Buch beschreibt nicht nur die Brillanz in Oranje (über die man gelegentlich streiten kann), sondern ist selbst brillant geschrieben (das ist unzweifelhaft). Die gute angelsächsische Tradition, das Privateste aufs Leichteste mit dem Allgemeinen, Weltgültigen zu verbinden, erlebt hier nach Nick Hornbys „Fever Pitch“ zum zweiten Mal einen fußballerischen Höhepunkt. Das holländische Au-pair-Mädchen Hanny hat im Autor als Kind eine unausrottbare Liebe zum Land der Deiche eingepflanzt, und die lebt er nun aus. Aber nicht als Schwärmerei, sondern als fußballgrundierte Sozialforschung.
Was hat der Aufstieg des holländischen Fußballs Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre mit der surrealistischen, anarchistischen, theatralisch verspielten Rebellion der Jugend in Amsterdam zu tun, die ihr 68 schon zwei Jahre früher hatte, ausgelöst von der Heirat der Königin mit einem Deutschen? Warum wurde ausgerechnet ein Fußballer, Johan Cruyff, zum wichtigsten Repräsentanten dieser gesellschaftlichen Umbrüche, zu einer Art John Lennon? Was hat der typisch holländische Spielstil, der Total Foetball, mit der totalen Architektur vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun, die toll aussah, deren Dächer aber gelegentlich so undicht waren wie die holländischen Abwehrreihen im Spiel gegen die Russen vor wenigen Wochen? Und schließlich die Raumfrage: Warum haben holländische Mannschaften, von Ajax bis zum Nationalteam, die Raumaufteilung im modernen Fußball revolutioniert? Winner weiß es: Weil die Holländer in jedem anderen Bereich ihres Lebens schon seit Jahrhunderten über den Raum nachdenken, weil sie davon zu wenig haben. Schon im Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier waren sie erfolgreich, weil sie die Räume eng machten (sprich: indem sie die Wiesen und Felder zwischen den mauergeschützten Städten fluteten).
So geht es fort und fort, die traumatische Niederlage gegen Deutschland bei der WM 74 als „Akt versehentlicher Selbstzerstörung“, ein letztlich literarisches Drama in der Tradition von Ödipus und König Lear. Das Halbfinale der EM 88 als Rache dafür, als Sergio-Leone-Western. Eine so leichthändig wie präzise ausgeführte Deutung reiht sich an die andere, Winner hat mit den Legenden des holländischen Fußballs genauso gesprochen wie mit Raumplanern, Künstlern, Musikern. Seine Emphase, sein Pathos, sein Witz tragen auch den deutschen Leser noch über manch unaussprechlichen Namen locker hinweg. So ein Buch gibt es über den deutschen Fußball (noch) nicht. Also müssen wir lernen, wenigstens für 363 Seiten lang Holland zu lieben. Und dann sollten wir David Winner mal ein deutsches Au-pair-Mädchen auf den Hals hetzen.