Der Abstieg
Wie Funktionäre einen Verein ruinieren (2018/2019)Rezension: Der Abstieg
Bernd GäblerTobias Escher hat sein Spiel verlagert. Er blickt nicht mehr nur auf die Taktiktafel, sondern auch hinter die Kulissen. Zu diesem Zweck hat er sich mit Daniel Jovanov zusammengetan, der jedes Datum, jede Intrige, jede weichenstellende Entscheidung im Management des Hamburger Sportvereins kennt. „Der Abstieg des Dinos kam nicht über Nacht,“ wissen beide. Jahrelang habe der große Hamburger Traditionsverein auf ihn hingearbeitet. Über diesen jahrelangen Prozess haben die beiden Kenner ein durch und durch analytisches Buch geschrieben. Es ist kein Buch ausschließlich für HSV-Fans und erst recht kein Buch für jene, die den Abstieg des Vereins mit Häme verfolgt haben. Stattdessen ist es ein richtiges Fußballbuch geworden – weder Literatur mit dem Gegenstand Fußball, noch Soziologie anhand des Fußball. Wäre das Buch ein Film, wäre dieser weder Romanze noch Krimi, sondern eine saubere Doku.
Welche zentrale Frage untersucht das Buch, oft sehr detailliert, ja geradezu kleinteilig? Jedem Fußball-Menschen ist die Weisheit geläufig, dass letztlich entscheidend sei, was „auf'm Platz“ geschieht. Das ist eine Binse. Kenner wissen auch, dass Tobias Escher seit einiger Zeit und auf verschiedenen Kanälen führend daran beteiligt ist, dieses Geschehen „auf'm Platz“ genauer zu analysieren. Darum ist es ohnehin an der Zeit, dass seine klugen Taktik-Analysen auch von der Akademie für Fußballkultur gewürdigt werden. Diese gibt es auch in diesem Buch über den HSV, aber darin erschöpft sich das Buch keineswegs. Oft ist – wenn etwa ein neuer Sport-Manager kommt oder ein neuer Trainer sein Amt antritt – auch davon die Rede, dass sich nun die „Strukturen“ im Verein ändern müssten. Was aber meint das genau? Grob kann man es sich ja vorstellen: dass es besser ist, wenn Trainer und Sportvorstand sich verstehen statt gegeneinander zu arbeiten; dass der Sportchef Rückhalt vom Vorstand haben soll; dass es gar eine gemeinsame „Philosophie“ (wie es heute gerne heißt) geben müsse.
Escher und Jovanov zeigen nun sehr exakt und in strenger Chronologie auf, wie sich Missmanagement und irreale Zielsetzungen, falsche Entscheidungen und personelle Querelen tatsächlich auswirken auf das Geschehen auf dem Platz. Da werden Trainer als Heilsbringer gehypt und dann schnell wieder geschasst. Weil die Not wieder einmal groß ist, werden viel zu teure Transfers ohne Sinn und Verstand abgewickelt – und immer wieder interveniert der Investor, der - wie im Fall des HSV der Millionär Klaus-Michael Kühne - natürlich immer betont, wie sehr ihm „sein“ Verein eine Herzensangelegenheit sei. Aber mit dem investierten Geld wächst auch dessen Macht. Die glorreiche Rückkehr des Rafael van der Vaart im Sommer 2012, von den Fans, der Stadt und der Klatschpresse bejubelt, hat Kühne möglich gemacht. Die gerade erst installierten „Chelsea-Boys“ rund um den Sportchef Frank Arnesen wurden übergangen. Arnesen hätte lieber das Talent Christian Eriksen von Ajax Amsterdam geholt. Die Folgen für den Spielstil untersucht Escher genau. Van der Vaart ist immer noch technisch versiert und ein kluger Passgeber, aber er braucht einen zweiten Mittelfeldspieler, der die Lücken füllt, die er bei Ausflügen hinterlässt. Denn in harten Zweikämpfen reibt er sich auf und bei gegnerischem Ballbesitz verringert sich sein Laufpensum schlagartig. Der 23-jährige Kroate Milan Badelj, von Arnesen eigentlich als Verbindungsspieler zwischen den Linien geholt, muss nun vor allem defensiv aushelfen. Die Folge: Unter Druck bricht der HSV regelmäßig ein. Er verliert, sobald er in Rückstand gerät.
Nachdem der Verein sich bereits zweimal in Folge nur durch das Relegationsspiel in der Bundesliga halten konnte, ändert sich intern dennoch wenig. Das Chaos steigert sich sogar bis hin zu angeblich im Park gefundenen Gehaltslisten der Spieler. Nachdem der Relegations-Held Diaz bereits in der Winterpause verkauft wurde, lässt man dann im Sommer 2015 das damals 19-jährige Abwehr-Talent Jonathan Tah ziehen und kauft stattdessen zur Stabilisierung der Defensive das 35-jährige Raubein Emir Spahic. Das gelingt sogar, aber auf Kosten der Spielgeschwindigkeit. Die Abwehr steht und haut die Bälle im „Hauruck-Stil“ nach vorne. Es gelingt aber weder den Kader zu verjüngen, noch das spielerische Niveau zu heben.
Kein anderer Verein – schreiben die Autoren - füttert die Medien so zuverlässig mit „Information aus dem tiefsten Inneren“ (S. 258). Und in keinem anderen Verein würden so regelmäßig Personalentscheidungen über- und strukturelle Veränderungen unterschätzt. Das führt in der Konsequenz zur Gleichung: Je schlimmer es läuft, desto höher die Ausgaben für Spieler und Berater.
Während der als Retter gerufene neue Vorstandsvorsitzende Heribert Bruchhagen insbesondere über die hohen GehäIter der Spieler Ekdal, Lasogga, Hunt und Holtby die Hände über den Kopf zusammenschlägt, hat Investor Kühne besonderes Gefallen an Spielerberater Volker Struth gefunden, mit dem gemeinsam er den Sportchef Jens Todt zur Nebenfigur degradiert. Bald nennt er auch Bruchhagen eine „Übergangslösung“. Mit jedem Abstiegskampf und mit jedem Transfer-Flop verschärft sich die Abhängigkeit des Vereins von Kühne. Die Skepsis der Autoren gegenüber dem mächtigen Investor ist nicht antikapitalistischer Fußballromantik geschuldet, sondern schlicht ihrem fußballerischen Sachverstand.
Die Schleife der Vereinsentwicklung wiederholt sich beim HSV immer wieder. Man lebt von der Erinnerung an große Zeiten, entsprechend unrealistisch hoch werden die Erwartungen gesteckt: Unbedingt will man Europa erreichen, diesmal aber sicher. Dann klappt es nicht, sofort regieren Not und Hektik, und man spielt einen Fußball wie er für Abstiegskämpfe typisch ist. Und in der Vereinsführung brechen würdelose Querelen und Intrigen aus.
Aber es gibt auch die andere Seite: Als am 12. Mai 2018 in der 71. Minute der Abstieg aus der 1. Bundesliga feststeht, fangen die Fans nicht – wie befürchtet – damit an, den Platz zu stürmen, sondern sie singen. Erst der harte Kern der Nordtribüne, dann das ganze Stadion. Sie zeigen, wie viel Begeisterung und Treue noch in dem Verein steckt, den die Funktionäre ruiniert haben.
Und Tobias Escher und Daniel Jovanov zeigen, wie das zusammenhängt: „auf'm Platz“ und „die Strukturen“. Sie tun dies exemplarisch und vorbildlich. Darum ist „Der Abstieg“ ein würdiges Fußballbuch des Jahres.