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Platz 2 Fußballbuch 2015

7:1. Das Jahrhundertspiel

Als der brasilianische Mythos zerbrach und Deutschlands vierter Stern aufging (2014/2015)
Platz 2  Fußballbuch des Jahres 2015 
Christian Eichler
© Andreas Müller
Droemer Tb
Verlagsinfo www.droemer-knaur.de
12,99 Euro
978-3-426-30086-2

Rezension: 7:1. Das Jahrhundertspiel

Bernd Gäbler

Weil in ihm selbst schon alles enthalten ist – Sieg und Niederlage, Auf und Ab, Triumph und Leiden. So beantwortete der große Marcel Reich-Ranicki einmal die Frage, warum es denn so wenig gute Literatur zum Sport geben würde. Eine einfache Nacherzählung, eine simple Verdoppelung des doch bereits live und hautnah Erlebten reicht da nicht. So ein Buch wäre fad, würde keinen Mehrwert bieten und keine Leselust.

Christian Eichler, der im alltäglichen Sportjournalismus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht nur zum Kenner des Fußballs, sondern auch zum Stilisten gereift ist, kennt diese Gefahr. Und dennoch scheint er geradewegs auf sie zuzusteuern. „12. Minute: Löw blickt voraus“, „33. Minute: Foul an Müller“, „77. Minute: Löw wechselt das System“ - so heißen die Kapitelüberschriften. Auf den ersten Blick könnte dies zu dem Fehlschluss verleiten, das Buch biete nicht mehr als eine akribische Nacherzählung dieses legendären „Siebeneins“ vom 8. Juli 2014 im Estádio Mineirao in Belo Horizonte. Und tatsächlich beobachtet Eichler sehr genau, denkt sogar darüber nach, warum es eigentlich Sitte geworden ist, den Arm zu heben, bevor ein Eckstoß hereingetreten wird. Er nimmt das Spiel unter die Lupe und führt es uns noch einmal vor wie ein Laborexperiment.

Darin aber liegt noch nicht das eigentlich Raffinierte dieses Buches. Das Spiel Deutschland gegen Brasilien ist Gegenstand des Buches, es gibt den Takt und den Rhythmus vor, aber sein Verlauf ist nur das Gerüst, um das sich immer wieder viele kleine Geschichten, Rückblicke, Portraits, Analysen und Anekdoten ranken. Erst dadurch wird das Buch farbig und prall, abwechslungsreich und aufklärend. Das Spiel selbst bleibt in seiner Einzigartigkeit unangetastet, wird so aber doch Teil einer größeren Erzählung über den Fußball. Die Geschichte des brasilianischen Aufstiegs, seiner Fußballgötter von Arthur Friedenreich bis Pelé, des besonderen Stils, der Magie, aber auch des Rassismus in dieser Gesellschaft wird in feinen Portionen dargeboten. Gesellschaftliche Verwerfungen und die Ökonomie, der Ausverkauf brasilianischer Talente nach Europa, werden nicht ausgespart. Dem gegenüber steht der große Bildungsroman des deutschen Fußballs, systematisch ersonnen nach den Niederlagen der 80er Jahre, befeuert vom ökonomischen Aufschwung der Bundesliga und einem sich normalisierenden Nationalgefühl, gesteuert von konsequenten Reformern an der Spitze des DFB-Teams hinter der Mannschaft. Christian Eichler, der in diesem Buch fast nebenbei zeigt, dass er ungeheuer viel weiß über den Fußball, weiß natürlich auch, dass Fußball keine Mathematik ist. Darum fällt es ihm nicht ein, dieses 7:1 zu reduzieren auf nackte Logik. Aber er sammelt viele Argumente und Indizien für seine Deutung: Dieses einmalige, herausragende Spiel markiert genau den Schnittpunkt zweier bereits seit längerem erkennbarer Entwicklungslinien.

Schon dies würde reichen für ein sehr gutes Sachbuch zum Fußball, das mit heißem Herzen und kühlem Verstand das „Jahrhundertspiel“ der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der WM 2014 in den Mittelpunkt von Beschreibung und Analyse stellt.

Christian Eichler aber kommt diesem Ereignis besonders nahe, weil er seinem Schreiben noch eine weitere Dimension hinzufügt – die Reflexion über die Zeit. Und das ist ungeheuer gekonnt. Sie durchzieht das Buch, entspricht unserer längst durch Zeitlupen und Wiederholungen geprägten Wahrnehmung, die uns verführt, gerade dann zu einem Surrogat zu greifen, wenn wir besonders intensives Erleben ausdrücken wollen: „Das ist wie im Film“, sagen wir und trauen unseren Augen kaum. Ganz lapidar heißen die Kapitel dazu: „24.Minute: Kroos, Tooor“, „26.Minute: Kroos, Toooor“, „29. Minute: Khedira, Tooooor“. Davor aber steht eine der Schlüsselstellen dieses poetischen Sachbuchs: „Das Spiel hat nun jenen Punkt erreicht, jene Phase der Verzerrung von gedehnter und verdichteter, von stehender und stürzender Zeit, die es so unvergesslich machen wird. Ein Spiel, das die Wahrnehmung in diesem Minuten zugleich aufs Äußerste schärft wie lähmt, den Verstand zugleich beschleunigt wie verlangsamt. Und dabei das Zeitgefühl so sehr betäubt, dass diese vier deutschen Tore, die gefühlte Zeit dieser Tore, einerseits flüchtig und unwirklich erscheint und anderseits dauerhaft und höchst real.“ ( S. 75)

Das ist Marcel Proust im Trainingsanzug. Indem es über das Spielgeschehen selbst hinausweist, wird Christian Eichlers Buch dem „Jahrhundertspiel“ gerecht. Man muss es nicht „Jahrhundertbuch“ nennen – aber es ist unbedingt das „Fußballbuch des Jahres“.

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