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Silvia Neid

Walther-Bensemann-Preisträgerin 2020

Ehrenmitglied
Auszeichnungen

Man kann die Geschichte des deutschen Frauenfußballs nicht ohne Silvia Neid erzählen. Und die Geschichte von Silvia Neid nicht ohne den Frauenfußball in Deutschland. Es ist eine untrennbare Verbindung, die vom zähen Kampf um gesellschaftliche Akzeptanz genauso handelt wie von zahlreichen Triumphen vor einem Millionenpublikum. Immer, wenn in dieser Geschichte etwas Entscheidendes passiert, ist Silvia Neid am Ball. Sie ist nicht einfach nur dabei, sondern über mehrere Jahrzehnte Gesicht und Gallionsfigur des deutschen Frauenfußballs. Erst als elegante Spielmacherin, dann als gewiefte Trainerin. Stets als Pionierin, die zur Emanzipation ihres Sports eine ganze Menge beiträgt.

Als Neid Ende der 1960er Jahre zu kicken beginnt, müssen sich Mädchen auf den Bolzplätzen der Republik noch schief anschauen lassen. Zwanzig Jahre später schauen erstmals die Massen zu, als die DFB-Frauen bei der Europameisterschaft 1989 im eigenen Land den ersten Titel gewinnen – mit Neid als Spielführerin. In den folgenden drei Jahrzehnten ist sie an allen weiteren Triumphen der deutschen Auswahl beteiligt, erst auf dem Rasen, dann an der Seitenlinie. Als 2016 bei Olympia in Rio de Janeiro der letzte noch fehlende Titel die imposante Sammlung komplettiert, tritt die Grande Dame des deutschen Frauenfußballs auf dem Gipfel ihres Schaffens als Bundestrainerin ab. Das Spiel, das ihr und dem sie so viel zu verdanken hat, lässt sie aber nicht los. Als Leiterin der Abteilung Trendscouting für Frauen- und Mädchenfußball beim DFB treibt Neid ihre Passion bis heute voran.

"Seit ich gehen kann", sagt Neid, "habe ich Fußball gespielt." 1964 im Odenwälder Wallfahrtsort Walldürn geboren kommt sie durch ihren Vater Franz, selbst Spieler in der Amateur-Oberliga, in frühester Kindheit mit der Leidenschaft für diesen Sport in Berührung. Mit elf Jahren beginnt sie im Verein zu spielen, erst für den SV Schlierstadt, dann für den SC Klinge Seckach. Als der DFB im Oktober 1982 sein erstes Frauenländerspiel austrägt, ist Neid gerade 18 Jahre alt und avanciert beim 5:1 gegen die Schweiz nach ihrer Einwechslung zur ersten Doppeltorschützin der Geschichte. Das erste Double aus Meisterschaft und DFB-Pokal gewinnt sie zwei Jahre später mit der SSG 09 Bergisch Gladbach.

Es folgen sechs weitere Meistertitel und fünf Pokalsiege mit dem TSV Siegen, für den sie ab 1985 bis zu ihrem Karriereende 1996 spielt. Vereinstrainer Gerd Neuser verschafft der gelernten Fleischereifachverkäuferin parallel einen Job in seinem Blumenhandel. Zunächst arbeitet sie als Auslieferungsfahrerin, später organisiert sie nach einer Ausbildung zur Großhandelskauffrau, den Ein- und Verkauf. Als Chef und Coach habe Neuser ihr beigebracht, wie man Arbeit und Fußball unter einen Hut bringt, sagt Neid. Gero Bisanz, ihr langjähriger Trainer beim DFB, habe sie gelehrt, wie man sich in Drucksituationen verhält. "Wenn sie gut aufgelegt ist, kann sie unser Spiel alleine bestimmen", sagte Bisanz einst über seine Lenkerin im zentralen Mittelfeld, die technisch versiert, torgefährlich und laufstark war. Wegen ihrer Fähigkeiten, ihrer Position und ihrer exponierten Rolle wird die Spielgestalterin Neid oft mit Lothar Matthäus verglichen. Das geht ihr auf die Nerven, weil sie ihre ganze Karriere hinweg dafür kämpft, dass der Frauen-fußball und seine Protagonistinnen eigenständig wahrgenommen werden. Einmal antwortet sie, dass ihr im Vergleich mit Matthäus eben "die entscheidenden fünf Gramm" fehlten.

Preisübergabe: In der Hall of Fame des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund nahm Silvia Neid den Walther-Bensemann-Preis entgegen. Überreicht von Katrin Müller-Hohenstein und kicker-Herausgeber Rainer Holzschuh.

Schlagfertig und schussgewaltig erarbeitet sich Neid Stück für Stück mehr Anerkennung für das, was sie tut: Im Mai 1988 wird ihr Volleytreffer in den Winkel zum "Tor des Monats" gewählt. Über allem in ihrer aktiven Karriere steht für Neid aber die Europameisterschaft im Jahr darauf. Das Halbfinale gegen Italien in Siegen, wo sie bis heute wohnt, ist das erste Frauenfußballspiel, das in Deutschland live im Fernsehen übertragen wird. Neid trifft zum 1:0, das DFB-Team siegt im Elfmeterschießen. Das 4:1 im Endspiel gegen Norwegen in Osnabrück sehen 22.000 Zuschauer. "1989 war unvergesslich", sagt Neid, "das erste Mal vor ausverkauftem Stadion: Du weißt, die Leute kamen wirklich nur wegen uns und dann hältst du als Spielführerin den Pokal in deinen Händen." Der Triumph löst einen Boom im deutschen Frauenfußball aus, zwei Jahre später verteidigen Neid und Co. den Titel, 1995 gewinnen sie ihn zum dritten Mal. "Neid", schreibt die taz nach dem EM-Sieg, sei "ein Monolith in der Frauschaft. Viele der Teenager im deutschen Team haben wegen ihr mit dem Fußball begonnen". "Silv", wie ihre Mitspielerinnen sagen, ist das Aushängeschild und der erste Star im deutschen Frauenfußball. Im WM-Halbfinale 1995 bestreitet sie als erste Deutsche ihr 100. Länderspiel, der globale Titel und Olympia- Gold bleiben ihr als Spielerin jedoch verwehrt. 1996 beendet Neid nach 111 Partien und 48 Toren für die DFB-Auswahl ihre Karriere, sie hatte nur 16 von bis dahin 127 Länderspielen verpasst.

Nahtlos wechselt Neid die Seiten und wird Assistentin der neuen Bundestrainerin Tina Theune-Meyer, mit der sie die einzigartige Erfolgsgeschichte fortschreibt. "Ich habe damals immer gefordert, dass wir den Frauenfußball in weibliche Hände geben, damit wir ihn nicht nach unseren männlichen Maßstäben formen", sagt der damals abtretende und 2014 verstorbene Bisanz. Als Co-Trainerin der Nationalmannschaft gewinnt Neid drei weitere EM-Titel (1997, 2001, 2005) und wird 2003 erstmals Weltmeisterin. Parallel holt sie als Trainerin verschiedener Juniorinnen-Teams vier Trophäen, die sie für sich als „vergleichbar wertvoll“ einstuft, weil sie selbst die Verantwortung trägt. Die ruhige, zurückhaltende Theune-Meyer und die fast elf Jahre jüngere Neid, die in der Kabine wie in der Öffentlichkeit auch mal laute und kritische Töne anschlägt, bilden neun Jahre lang ein ideales Trainerinnengespann. Als Theune-Meyer 2005 zurücktritt, stellt sie bezüglich ihrer Nachfolge lakonisch fest: "Es kann keine andere geben."

Keine andere als Neid, die sich selbst einmal als "ehrgeizig, selbstbewusst, emotional und nachtragend" beschrieb. Als Chefin ist sie davon überzeugt, dass sie bei ihren Spielerinnen nicht beliebt sein wollen darf. "Wer führen will, muss auch verletzen können", lautet ihr Credo. Disziplin als oberstes Gebot sowie hohe Erwartungen an sich und andere prägen ihren Ruf als strenge und verbissene Chefin. Doch sie kann auch gelassen und humorvoll, versteht es, mit den Medien zu spielen und mit ihrer Weiblichkeit zu kokettieren. Vor der WM 2007 erklärt sie auf Nachfrage, sie werde die letzten freien Tage vor dem Abflug vor allem "bei der Fußpflegerin und beim Friseur" verbringen. Ein lockerer Spruch als Beleg für ihren souveränen Umgang mit den Klischees, die sie über Jahrzehnte begleiten. Bei der WM in China liefert Neid ihr Meisterstück ab, indem sie die deutsche Mannschaft ohne Gegentor zur Titelverteidigung führt. Auch bei den Europameisterschaften 2009 und 2013 gewinnt die Auswahl unter ihrer Anleitung den Titel. Dazwischen liegt jedoch die größte Enttäuschung während ihrer Amtszeit als Bundestrainerin: Bei der Heim-WM 2011 gerät Neid nach dem Viertelfinal-Aus gegen den späteren Weltmeister Japan (0:1 nach Verlängerung) in die Kritik. Sie zieht sich kurz zurück, macht aber weiter. Bis zum Olympia-Finale 2016 in Rio, das Deutschland mit 2:1 gegen Schweden gewinnt.

"Das war das i-Tüpfelchen", sagt Neid nach ihrem insgesamt elften Titel mit dem Nationalteam. Dazu kommt eine Reihe von persönlichen Auszeichnungen: 2007 wird ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen; 2010, 2013 und 2016 wird sie von der FIFA zur Welttrainerin des Jahres gekürt; seit 2019 hat sie einen Platz in der Hall of Fame des Deutschen Fußballs. Und nun, 2020, erhält Neid den Walther-Bensemann-Preis. Als erste Frau und mit 56 Jahren die jüngste Persönlichkeit, die diese Ehrung bislang bekommen hat. Es ist die Auszeichnung für ein Lebenswerk im Fußball und in der Gesellschaft, das wahrhaft unvergleichlich ist. 

von David Bernreuther

Silvia Neid
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