Literatur

Schiedsrichter Fertig

Schiedsrichter Uwe Fertig hat seine ganz eigenen Ansichten über den modernen Fußball und die Welt. Und die tut er kund, unmissverständlich und mit einem Furor, der einen ahnen lässt, wie bewusst er sich seiner Autorität auf dem Platz ist. Aber als machtvoller Schiedsrichter muss Uwe Fertig auch erleben, dass man im Leben manchmal völlig machtlos ist...

"Der Arbeitsplatz des Schiedsrichters ist der Boden einer Riesigen Schuhschachtel, die zugleich aber auch eng ist, denn der Schiedsrichter ist umstellt von achtzigtausend Menschen, von einer Wand aus Menschen, von vier Wänden aus Menschen, Steilwänden aus Menschen, die sich in einen Mob verwandeln, in einen schreienden, erregten Mob. Vier Steilwände mit einem Mob, der schreit und sich erregt, der beschimpft und hetzt und droht – das ist der Arbeitsplatz des Schiedsrichters. Mobbing in seiner krassesten, reinsten Form, das ist die gewohnte Arbeitsatmosphäre des Schiedsrichters. Diese Stadien, gerade die neuen Stadien, die Arenen heißen, sind extra so gebaut, daß auch wirklich das letzte aus dem Mob rausgeholt wird. Die Tribünen würden Mobständer heißen, wenn Herr Lüdemann das Sagen hätte. Diese Mobständer sind auch immer überdacht, nicht etwa zum Schutz gegen Regen, sondern zur Lärmkanalisierung. Es geht ja nicht darum, ob Regen auf den Mob fällt, sondern darum, daß der gute, wertvolle Lärm nicht nach oben entweicht, denn oben tut er ja niemandem weh. In manchen Arenen hängen Mikrofone vor den Mobständern, um den Lärm über eine Lautsprecheranlage zu verstärken und den Mob zusätzlich anzuheizen. Die fürchterlichsten Momente spielen sich ab, wenn ein Tor fällt. Der Mob schreit von dreieinhalb Seiten, nur der auswärtige Mob ist still, der Lärm kommt oben nicht raus, die Mikrofone vor den Mobständern nehmen den Lärm auf, und die Lautsprecher verstärken ihn, und außerdem kommt aus den Lautsprechern Uffta-uffta-Musik. Der Lärm ist apokalyptisch, er erreicht Pegelstände, die gesundheitsgefährdend sind. Schon bald werden Profis, die jahrelang auf fünfzig, sechzig Spiele im Jahr kommen, aufhören müssen, weil sie taub sind. Sie werden nicht aufhören müssen, weil das Kreuzband zum wievielten Male operiert werden muß, sie werden nicht aufhören müssen, weil die Kniescheibe verrenkt oder das Sprunggelenk zertreten ist, nicht wegen Knorpelschäden im Knie oder einer gerissenen Achillessehne, sondern schlicht wegen Taubheit, wegen schwerster, irreparabler Hörschäden. Der Lärm auf dem Spielfeld ist von einer kolossalen, überreizten Maßlosigkeit, von einer erdrückenden, zermalmenden Gewalt, daß ich irgendwann ein Spiel wegen Unbespielbarkeit des Platzes abbrechen werde. Ein Schiedsrichter kann laut Regel 5 ein Spiel abbrechen, und nirgends steht, daß ausschließlich Witterungsverhältnisse oder Ausschreitungen Ursache von Spielabbrüchen sein können. Es ist in Regel 5 ausdrücklich von einem nicht näher definierten »anderen Grund« die Rede, aus dem heraus der Schiedsrichter ein Spiel abbrechen kann, ja muß, und nirgends in dem 94seitigen Regelwerk steht, daß ein Spiel keinesfalls allein wegen des Lärmpegels abgebrochen werden darf. Ich werde irgendwann ein Spiel wegen akustischer Unbespielbarkeit des Platzes abbrechen. Der Schiedsrichter, der ein Spiel wegen akustischer Unbespielbarkeit des Platzes abbricht, hätte sich einen Namen gemacht. Es wird dann immer heißen: Schiedsrichter Uwe Fertig, das ist der, der das Finale wegen akustischer Unbespielbarkeit des Platzes abgebrochen hat."

aus Thomas Brussig: Schiedsrichter Fertig. Eine Litanei
© 2007 Residenz Verlag im Niederösterreichischen Pressehaus Druck- und Verlagsgesellschaft mbH St. Pölten - Salzburg

Thomas Brussig, 1965 in Berlin geboren, wuchs im Ostteil der Stadt auf und arbeitete nach dem Abitur u.a. als Museumspförtner, Möbelträger und Hotelportier. Er studierte Soziologie und Dramaturgie in Berlin und Potsdam und debütierte 1991 mit dem Roman "Wasserfarben". 1995 erschien sein in zahlreichen Sprachen übersetzter und auch als Bühnenfassung erfolgreicher Roman "Helden wie wir". 1999 folgte der Bestseller "Am kürzeren Ende der Sonnenalle", für den er zusammen mit Leander Haußmann den Drehbuchpreis der Bundesregierung erhielt. Sein Trainermonolog "Leben bis Männer" ist seit 2001 am Deutschen Theater zu sehen. Thomas Brussig ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur und Fan von Hertha BSC.

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