Abseits
Das letzte Geheimnis des Fußballs. Erweiterte Neuausgabe (2009/2010)12,00 Euro
Rezension zu: Abseits
Michael WulzingerAbseits. Ein Reizwort des Fußballs, vielleicht das Reizwort schlechthin. Sofort sieht man Linienrichter vor sich, die heute Assistenten heißen, wie sie mit der Fahne wedeln, wo sie niemals mit der Fahne hätten wedeln dürfen; man hat den Protestchor des Publikums im Ohr, der erst bedrohlich anschwillt, dann langsam abebbt, ehe er, deutlich zu vernehmen, in wüsten Beschimpfungen mündet; man erinnert sich erbitterter Debatten vor dem Fernseher, man gedenkt legendärer Tore, die keine waren, und sofort fallen einem tausend Sätze ein, die allesamt mit „wenn“ beginnen und die unweigerlich zum „hätte“ führen. Sätze übers Abseits sind in der Regel Sehnsuchtssätze.
Dabei könnte alles so einfach sein. Welcher Spieler abseits ist und welcher nicht, ergibt sich klar und unstrittig aus Paragraph elf der weltweit gültigen Fußballregeln, die frei von allen Schnörkeln formuliert sind. Einerseits. Andererseits bergen die schlichten Handlungsanweisungen des International Football Association Board für den Unparteiischen unzählige Fallstricke. Und weil eine Ansichtssache, die durch einen entschlossenen Pfiff zur unumkehrbaren Tatsachenentscheidung wird, erhebliches Erregungspotential besitzt, hört die Pein auch niemals auf: Schiedsrichter, Telefon! Doch siehe da: Der Schmerz, den Regel elf zuweilen auslöst, kann durch Lektüre gelindert werden. „Abseits. Das letzte Geheimnis des Fußballs“ heißt das Büchlein, das der Autor Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses, nun in zweiter Auflage veröffentlicht hat. Für mich ist dieses schmale Werk, dessen Verfasser – wen wundert’s? – acht Jahre lang seiner Pflicht als Schieds- und Linienrichter nachkam, das Fußballbuch des Jahres 2010.
Denn „Abseits“ ist eine wunderbare Handreichung für all diejenigen, die schon immer erfahren wollten, warum das, was sie bisweilen quält, fürs Spiel als solches notwendig, ja unverzichtbar ist. Kenntnisreich erläutert Moritz die historische Entwicklung der mythischen Regel; souverän erläutert er ihre strategische Dimension; und lustvoll räumt der Autor auf mit Begriffsverwirrungen, etwa der vom „passiven Abseits“, die er als Erfindung allenfalls mit profundem Halbwissen ausgestatteter Fernsehkommentatoren entlarvt. All dies gewitzt und humorvoll im Ton, niemals belehrend, immer erhellend. Und wo’s sein muss, scheut Moritz auch einen Kalauer nicht. „Männer haben 100 Gramm mehr Gehirn als Frauen“, zitiert er an einer Stelle den Kabarettisten Dieter Nuhr, „da ist unter anderem die Abseitsregel drin.“
Am Ende seiner debattierfreudigen 148 Textseiten, denen noch sechs Seiten wertvoller Literaturhinweise folgen, zeigt sich der frühere Unparteiische parteiisch. „Wer die Abseitsregel – aus welchen Gründen auch immer – abschaffen oder reformieren möchte, läuft Gefahr, dem Spiel sein geheimes Regulativ zu rauben“, lautet eine von Moritz’ Schlussfolgerungen. Ärger noch: Der liefe auch Gefahr, der Welt die Möglichkeit einer dritten Auflage dieses kleinen, feinen Ratgebers zu rauben.