Günter Netzer
Walther Bensemann-Preisträger 2013
Begleittext zur Preisverleihung 2013
Die Haare flattern noch immer wie einst, als er auf dem Fußballgrün im Trikot mit der Nummer 10 mit ausgreifenden Schritten legendär aus der Tiefe des Raumes kam. Jetzt weht der sanfte Spätsommerwind die über den Sakkokragen fallende Mähne nach hinten, Netzer schiebt sich vom Züricher Bellevue leicht bergan die Rämistraße hoch zur Kronenhalle. Hier, bei einem Wiener Schnitzel, trockenem Weißwein und stillem Wasser, erzählt er von seinem spannenden Leben und zunächst vom „sicherlich außergewöhnlichsten Tag in meinem Fußballerleben“.
40 Jahre ist es mittlerweile her, man schrieb den 23. Juni 1973, im DFB-Pokalfinale treffen in Düsseldorf Borussia Mönchengladbach und der 1. FC Köln aufeinander. Am Vormittag des Spieltages, beim obligatorischen Spaziergang mit der Mannschaft, teilt Borussia-Trainer Hennes Weisweiler Netzer, seiner Nummer 10, mit, dass er in diesem Finale zunächst auf der Auswechselbank sitzen werde. Netzer hatte wegen des Todes seiner Mutter kurz zuvor nicht ausreichend trainieren können und war nicht richtig fit. „Ganz schön mutig“, entgegnete der große Star seinem Chef. Nach der Rückkehr ins Teamhotel wollte Netzer eigentlich abreisen, „ich wurde ja nicht gebraucht“, doch Mitspieler wie Berti Vogts, Hacki Wimmer oder Bernd Rupp überredeten ihn zu bleiben. Es war gut so, denn sonst hätte sich eine der unglaublichsten Geschichten der deutschen Fußball-Historie nicht ereignet.
Netzer beugte sich also der kollegialen Bitte und setzte sich auf die Bank, bei brütender Hitze explodierte dieses Endspiel zu einer mitreißenden Veranstaltung. Zur Halbzeit, es stand 1:1, wollte Weisweiler aufgrund der zunehmenden Anti-Stimmung im Stadion den von Fans lautstark geforderten „Netzer! Netzer!“ einwechseln, doch der lehnte ab mit der Begründung: „Wenn ich jetzt reingehe, schade ich der Mannschaft, es gibt nichts zu verbessern.“ Nach 90 Minuten lautete das Ergebnis noch immer 1:1, Verlängerung. Als Netzer den Kollegen Christian Kulik völlig ermattet sah, zog er sich ohne Auftrag Weisweilers den Trainingsanzug aus, „wie ferngesteuert“, passierte den Vorgesetzten und sagte im Vorbeigehen: „Ich spiele jetzt.“ Vom verdutzten, zuweilen knurrigen Chefcoach kam keine Reaktion. Also passierte, „was einfach passieren musste, irgendwer hat das gewollt“: Netzer wuchtet nach wenigen Sekunden den kurz aufhüpfenden Ball mit dem linken Außenspann in den Winkel, 2:1, der Pokaltriumph für Mönchengladbach.
In seinem letzten Spiel für die Borussia – Netzer wechselte anschließend zu Real Madrid – gelingt ihm dieser Siegtreffer, der zunächst gedemütigte Star wird zum großen Helden, manchem gar zum Mythos, der Netzer selbst gar nicht sein möchte. Für ihn war es nur „eine Leistung von Sekunden, pures Glück“. Und doch vielleicht mehr?
„Für unsere Denkweise“, sagt er und stützt sein Haupt nachdenklich auf die gespreizten Finger seiner rechten Hand, „reduziert es sich auf Glück“. Diese Location, wie es neudeutsch heißt, nahe dem Zürichsee gelegen, inspiriert zum Nachdenken. Die großen Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch waren hier Stammgäste, der berühmte James Joyce speiste hier, Pablo Picasso, Oskar Kokoschka oder Andy Warhol. An den Wänden hängen Originale von Chagall oder Miro. Netzer spricht von diesen Malern wie ein Sachverständiger, die Kunstszene hat ihn schon in seiner Zeit als Fußballspieler fasziniert und angezogen. Der Filmregisseur Michael Pfleghar wurde ihm eine prägende Bezugsperson.
„Andere Sichtweisen jenseits des Fußballs haben mich immer interessiert und begeistert“, sagt Netzer, von Leuten, „die schlauer waren oder einen gewählteren Ausdruck hatten als ich“, ließ er sich beeinflussen und seine spezielle Sprache prägen. Da ist es irgendwie logisch, dass er die Initiative „Mönchengladbach liest“ in diesem November mit seinem großen Namen unterstützt. Soziales Engagement zeigt er auch als Mitglied im Kuratorium der Bundesliga-Stiftung.
Netzer selbst sieht sich anders, weniger gewaltig. „Ich bin mein größter Kritiker und finde mich überwiegend nicht so toll“, sagt er mit der ihm eigenen, ganz feinen, staubtrockenen, todernst erscheinenden Ironie. Er fügt hinzu: „Über all die Jahre versuchte ich mich zu verbessern – und bin nicht besser geworden.“ Wer so spricht, ist mit sich im Reinen. Netzer ruht in sich und empfindet diesen Befund als Kompliment. Sein Leben hätte besser nicht laufen können, auch wenn ihn, den früheren Berufsfußballspieler, heute ein kapitaler Meniskusschaden, Arthritis und Rückenschmerzen plagen. Aber diesen Preis muss ein Leistungssportler wohl zahlen. Dafür konnte er, so Netzer, „über all die Jahre fast nur machen, was mir Spaß brachte“. Dann formuliert er einen schönen, typischen Netzer-Satz: Er habe „ein wunderbare Familie, die mich Tag für Tag ärgert und noch mehr erfreut“. Mit seiner Frau Elvira und Tochter Alana lebt er in Zürich, von dieser zentralen Lage aus kann er in Europa jedes Ziel per Flugzeug optimal erreichen. Seit Netzer Vater wurde, war er von seinen Lieben nur ein Mal länger als drei Tage getrennt, bei Länderspielen in Moldawien und in der Türkei passten die Fluglinien nicht. Für gewöhnlich aber geht es schnellstmöglich zurück in die heimische Behaglichkeit.
„Ich bin rundum glücklich und zufrieden“, sagte Netzer, als er die Grenze zum Rentenalter überschritt, völlig unbeeindruckt von dieser vermeintlichen Zäsur. „Wir“ – und da nennt er namentlich zwei andere deutsche Fußballgrößen, Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath, die für viele andere stehen mögen – „sind dermaßen auf der Sonnenseite des Lebens geboren und konnten uns unser Leben zurechtbiegen, deswegen ist es so phantastisch, deswegen steckte so viel in diesem Leben“.
Für das Einzelkind Günter begann es in einfachen Verhältnissen, der Vater verkaufte Samen an Bauern und Gärtner, die Mama betrieb einen Gemischtwarenladen. Mit 14 Jahren verabschiedete sich Sohnemann Günter vorzeitig vom Gymnasium, in der Handelsschule machte er den Abschluss. Das Kicken lernte er auf der Straße, zunächst war er Torhüter, in seinem ersten Verein 1. FC Mönchengladbach wurde er auch im Feld eingesetzt – eine kluge Entscheidung, wie sein weiterer Werdegang bestätigen sollte. 1963, im Gründungsjahr der Bundesliga, unterschrieb der
Jugendnationalspieler Netzer bei Borussia Mönchengladbach, zwei Jahre später führte er als Kopf und Regisseur die legendäre Fohlenelf in die Bundesliga. Weil er sich mit Trainer Weisweiler immer wieder wegen dessen allzu optimistischer Offensivstrategie anlegte – sie führte nach Netzers Meinung zu keinem Titel –, entstand das Bild vom Rebellen Netzer, der alternativ als Sunnyboy und Playboy dargestellt wurde wegen seiner langen Haare, der schwarzen Kleidung, der Disco, die er betrieb, und des Ferrari, den er fuhr. Dieses Image kultivierte Netzer noch, indem er zu seiner Zeit bei Real Madrid den sofortigen Rauswurf riskierte, weil er etwa einfach mal nach Las Vegas flog, verbotswidrig.
Wie Borussia Mönchengladbach (1970 und 1971) dirigierte der Spielmacher auch die „Königlichen“ zu zwei Landesmeisterschaften, 1975 und 1976. Zwischenzeitlich, 1972, führte er mit seiner Kreativität, Spielintelligenz und seinen zentimetergenauen Pässen die angeblich beste deutsche Nationalmannschaft aller Zeiten zur Europameisterschaft und dieses Team in einer spektakulären Ouvertüre zum ersten Sieg in England, 3:1 am 29. April 1972 in Wembley.
In diesem Jahr 1972 und erneut 1973 wurde Netzer zudem zu Deutschlands Fußballer des Jahres erhoben. 1974, beim Gewinn der Weltmeisterschaft, gehörte Netzer zur DFB-Delegation, durfte aber nur 22 Minuten mitspielen und das bei der 0:1-Niederlage gegen die damalige DDR, so dass er sich nicht als Weltmeister fühlen mag, wie er betont: „Ich verbiete jedem zu sagen, ich sei Weltmeister.“
Der 37malige Nationalspieler Netzer, der als späterer Manager des Hamburger SV nochmals dreimal Deutscher Meister wurde und 1983 den Europapokal der Landesmeister gewann, fügt mit entspanntem Blick auf seine Nebenrolle bei der 1974er WM glaubhaft an: „Mir fehlt da nichts in meiner Vita.“ Sein Leben verlief ohnehin erfolgreich genug. Nach der Fußballkarriere auf dem Platz und am Schreibtisch des HSV zog er sich Mitte der 1980er in die Schweiz zurück, um Geschäftsmann im Fußball zu werden und mit TV-Rechten oder Bandenwerbung zu handeln. Nebenher profilierte er sich mit klugen Kritiken als manchmal kauziger Co-Kommentator der ARD bei Länderspielen. „Ich war da immer authentisch“, betont Netzer, der mit seiner Art dem Publikum bestens gefiel: 2000 wurde er mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet, 2010 beendete er dieses Engagement. „Ich hatte in meinem Leben nie eine Strategie, dass ich dies tun müsste, um jenes zu erreichen“, hat Netzer einmal gesagt, „ich habe nach Gefühl gehandelt.“ Es lenkte ihn in die richtige Richtung. Karlheinz Wild