Clarence Seedorf

Walther-Bensemann-Preisträger 2021

Ehrenmitglied
Auszeichnungen

Begleittext zur Preisverleihung 2021 (zum Video)

Beim Blick zurück auf seine glanzvolle Karriere muss Clarence Seedorf mitunter selbst staunen. "Manchmal lese ich mir die Aufstellungen durch und denke: Junge, Junge, waren das Granaten", erzählte der Niederländer 2016 im Interview mit dem kicker. Die Liste seiner ehemaligen Mitspieler klingt in der Tat wie eine Hall of Fame des Weltfußballs. Frank Rijkaard, Edgar Davids und Patrick Kluivert. Roberto Carlos, Fernando Hierro und Raul. Paolo Maldini, Andrea Pirlo und Kaka. Doch unter all diesen Giganten und Legenden sticht Seedorf hervor, weil er Einmaliges erreichte. Als einziger Spieler gewann er die Champions League mit drei verschiedenen Klubs. 1995 mit Ajax Amsterdam, 1998 mit Real Madrid, 2003 und 2007 mit dem AC Mailand.

Die Königsklasse war jahrelang Seedorfs große Bühne. Stolze 125 Vorstellungen gab er im Wettbewerb der Besten Europas, was Platz 11 in der ewigen Rangliste bedeutet. Der Niederländer feierte epische Triumphe und erlitt dramatische Niederlagen wie jene im Endspiel 2005, als sein Milan gegen Liverpool erst eine Halbzeit lang Traumfußball bot, dann aber eine 3:0-Führung verspielte und im Elfmeterschießen verlor. Schmerzhafte Erlebnisse wie dieses waren für den Mittelfeldspieler stets ein Ansporn, es erneut zu versuchen, noch besser zu werden. Zwei Jahre später standen Seedorf und die Rossoneri wieder im Finale, wieder gegen Liverpool – und schafften mit einem 2:1-Sieg die Revanche. In jener Nacht von Athen stemmte Seedorf den Henkelpott zum vierten Mal in die Höhe, was nur von Cristiano Ronaldo mit fünf Titeln übertroffen wird. Seedorf gewann mit Milan 2007 auch die Klub-WM, schon 1998 war er mit Real Weltpokalsieger. Hinzu kommen sieben nationale Meisterschaften und Pokalsiege in den Niederlanden, Spanien und Italien.

Über zwei Dekaden hinweg hielt sich Seedorf in der Weltspitze. Seine Ballkontrolle und technische Brillanz, seine Dynamik und Durchschlagskraft, seine Lauf- und Zweikampfstärke, seine Schussgewalt und seine raffinierten Standards machten den Mittelfeldspieler zum Ausnahmekönner. Ob in jungen Jahren mit schwarzen Rasta-Locken oder später mit kahl rasiertem Schädel – immer war er unermüdlicher Antreiber und versierter Gestalter. Seine Trainer von Louis van Gaal, über Jupp Heynckes bis Carlo Ancelotti wussten Seedorfs Übersicht und Spielverständnis ebenso zu schätzen wie seine Vielseitigkeit. Vor der Abwehr, hinter den Spitzen, auf den Flügeln – in den mit Superstars gespickten Ensembles fand Seedorf immer einen Platz.

Doch es sind bei weitem nicht nur die außergewöhnlichen Fähigkeiten auf dem Rasen, die diesen Menschen und Fußballer besonders machen. Sein Engagement und sein Wirken erstrecken sich weit über das Spielfeld hinaus. Weil er seinen Sport als Mittel begreift, um Menschen zu verbinden, Werte zu vermitteln, Botschaften zu verbreiten und Dinge zu verändern: "Milliarden Menschen verfolgen den Fußball, demnach steht er in der Pflicht, seine integrative Kraft zu nutzen und nicht exklusiv auf Ergebnisse und Business zu schielen."

Seedorf, dessen Vorfahren in der einstigen niederländischen Kolonie Suriname auf einer Plantage arbeiteten, kam als Zweijähriger mit seiner Familie aus Südamerika in die Niederlande. Vater Johann, der nur 17 Jahre älter ist als Clarence, förderte die Fußballleidenschaft seines ältesten Sohnes ebenso wie die der jüngeren Geschwister Chedric und Jürgen, die alle in der Nachwuchsakademie von Ajax Amsterdam ausgebildet wurden. Mit 16 Jahren und 210 Tagen feierte Seedorf 1992 als bis dahin jüngster Ajax-Spieler sein Debüt bei den Profis. Mit knapp 37 Jahren beendete er 2013 seine weltumspannende Spielerkarriere bei Botafogo Rio de Janeiro in Brasilien.

So erfolgreich er mit seinen Klubs war, so kompliziert gestaltete sich seine Beziehung zur niederländischen Nationalmannschaft. Zunächst als Nachfolger seines Jugendidols Frank Rijkaard gehandelt, entwickelte sich Seedorf in der Elftal zur Reizfigur. Bei der EM 1996 stand er im Zentrum eines Generationenkonflikts, der angeblich auch ein Streit zwischen weißen und dunkelhäutigen Spielern gewesen sein soll. "Da war nie etwas dran", beteuerte Seedorf Jahre später. Sportlich kam dem damals 20-Jährigen bei diesem Turnier eine tragische Rolle zu: Beim Aus im Viertelfinale gegen Frankreich war er der einzige Fehlschütze beim 4:5 im Elfmeterschießen. "Clarence muss sich erst noch die Hörner abstoßen. In drei, vier Jahren ist er Weltklasse", meinte der damalige Bondscoach Guus Hiddink. Doch obwohl Seedorf mit Oranje bei der WM 1998 sowie den EM-Turnieren 2000 und 2004 jeweils das Halbfinale erreichte, blieb er im Nationalteam umstritten. Er überwarf sich mit den Trainern Dick Advocaat und Marco van Basten, galt in Holland als Spieler mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und als streitbarer Charakter. "Ich stelle gerne Fragen und habe immer meine eigene Meinung gehabt. Das bereitete einigen Leuten Probleme", sagte Seedorf einmal.

Seine mitunter unbequeme Meinung kann Seedorf in einem halben Dutzend Sprachen ausdrücken: Er spricht Niederländisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, ein wenig Deutsch und auch die Kreolsprache Sranantongo aus Suriname ist ihm nicht fremd. Weil er neben der Karriere studierte, erwarb sich Seedorf in Mailand den Spitznamen "Il professore". Klub-Patron Silvio Berlusconi schätzte den weltgewandten, eloquenten Profi sehr – und holte ihn 2014 als Trainer zurück. Doch an die Grandezza seiner zehn Jahre auf dem Rasen konnte Seedorf an der Seitenlinie nicht anknüpfen. Das Engagement bei Milan endete wie die folgenden in Shenzhen (China) und La Coruna (Spanien) nach wenigen Monaten. Zuletzt trainierte Seedorf von 2018 bis 2019 die Nationalmannschaft Kameruns. Anfang 2021 prangerte er eine Benachteiligung von People of Colour im europäischen Fußball an: "Es gibt keine Chancengleichheit für Trainer. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, gibt es keine Menschen mit dunkler Hautfarbe in den mächtigsten Positionen im Fußball."

Den Kampf gegen Rassismus in den Stadien und in der Gesellschaft treibt Seedorf seit Jahren aktiv voran. Ebenso wie eine Reihe sozialer Projekte: In Surinam baute er ein Stadion und Trainingsstätten, um Jugendliche von der Straße zum Sport zu bewegen. Er gründete die Stiftung „Champions for Children“ mit dem Ziel, Kindern in Krisenregionen wie Kenia, Kambodscha oder Brasilien durch Bildung und Sport zu helfen und unterstütze weitere Projekte in Afrika. Zudem setzt er sich als Mitglied des strategischen Komitees des „Panel for the Amazon“ für Nachhaltigkeit, Klimaschutz und die Rechte der indigenen Bevölkerung im Amazonasgebiet ein.

Nelson Mandela nahm Seedorf nach einem persönlichen Treffen 2009 in den erlesenen Kreis der "Legacy Champions" auf, die das Erbe des südafrikanischen Freiheitskämpfers bewahren und in die Welt tragen sollen. Eine Ehre, die vor dem Fußballer nur fünf Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zuteilgeworden war, unter ihnen der frühere US-Präsident Bill Clinton. 2014 ernannte die UEFA Seedorf zum globalen Botschafter für Vielfalt und Wandel, bei der FIFA ist er Mitglied der Jury für den "Diversity Award". Sein Lebensweg mit Stationen in Südamerika, Europa, Afrika und Asien bestätigte Seedorf in seiner Überzeugung: "Die Erfahrung unterschiedlicher Kulturen bedeutet eine enorme Bereicherung. Das Eintauchen in den Alltag anderer Realitäten ist eine Ressource, keine Bedrohung – es hilft dir, Vorurteile und Stereotypen zu überwinden." Die weltweite Leidenschaft für den Fußball will er nutzen, um Botschaften wie diese zu verbreiten. Es ist eine Mission ganz im Sinne des Fußballpioniers Walther Bensemann, den Sport als Medium für Frieden und Völkerverständigung zu begreifen.

David Bernreuther

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