Platz 11Fußballbuch 2006

Goooooool!

Brasilianer zu sein, ist das Größte (2005/2006)
Platz 11  Fußballbuch des Jahres 2006 
Suhrkamp
7,00 Euro
Buchcover Goooooool! - Brasilianer zu sein, ist das Größte von

Rezension zu: Goooooool!

Jürgen Kaube

Nelson Rodrigues soll sehr kurzsichtig gewesen sein. Im riesigen Maracana-Stadion, spotten manche, habe er das Geschehen auf dem Spielfeld gar nicht genau verfolgen können. Das hat Brasiliens bedeutendsten Dramatiker des vergangenen Jahrhunderts nicht daran gehindert, wunderbare Fußballglossen zu schreiben.

Aber worüber, wenn er die Spiele doch gar nicht im Einzelnen verfolgt hat? Dumme Frage. Zum Beispiel über die Rache, die Hysterie, die Feigheit, die Langeweile, die Eitelkeit, den Fluch, das Fluchen, die Trauer, das Toben, den Straßenköter-Komplex und über Pelé. Für Rodrigues, der zwischen 1955 und 1980, dem Jahr seines Todes, fast täglich über den brasilianischen Fußball schrieb, ist Fußball ein ganz von Stimmung und Pathos getragenes Spiel: „Der mieseste Straßenfußball hat Shakespeare’sche Dimensionen“.

Doch Rodrigues schreibt nicht wie ein Theaterkritiker, aufgebläht von Kennerschaft und mit dem wichtigen Gesicht dessen, der jetzt gleich den  Daumen senken wird. Er schreibt vielmehr wie jemand, der sagen soll, wie seine Freundin aussieht, nein, wie einer, der der sagen soll, wie sie letzte Nacht aussah. Oder wie der Typ aussah, für den sie ihn letzte Nacht verlassen hat. Anders als viele Berichterstatter – oder gar die Fußballphilosophen – lassen seine Stücke also keinen Zweifel daran, daß Fußball ein physisches Geschehen ist. Daß man ihn nicht nur sieht, sondern auch hört und fühlt. Daß man ihn vor allem nur richtig sieht, wenn man ihn nicht allein sieht. Rodrigues schreibt, mit anderen Worten, aus dem Vokabular der Ränge, übersetzt die Gesten, das Gebrüll, die Ohnmacht und das Stammtischgeschwätz in Kolumnen. Außerdem ist für ihn Fußball ein Geschehen der Energieübertragung von einzelnen auf Kollektive und umgekehrt. Und eben weil seine tiefste magische Überzeugung ist, daß grottenschlechte Mannschaften mit grottenschlechten Fans zusammenhängen, daß also die Stimmung nicht nur „auf den Rängen“ ist, schreibt er so passioniert: Er glaubt, daß gute Metaphern zuletzt auch der Mannschaft nützen.

Das führt zu den herrlichsten Übertreibungen. Etwa der, daß es allergrößte Bedeutung besitzt, ob ein Trainer dick oder dünn ist. Oder der, daß es den Spielern früher – so um 1911 herum, als sowieso alles besser… - wichtiger war, eine Schneise der Vernichtung durch die Gegner zu schlagen, anstatt etwas mit dem Ball anzufangen. Oder der über die Einwechslung einer Legende, die zur Wende im Spiel führte: „Im Spiel Brasilien gegen Paraguay hatte Zizinho das Match schon gewonnen, noch ehe er auf den Platz kam, noch bevor er sein Trikot durchschwitzen konnte. Er hatte es schon in der Pause über den Stadionlautsprecher gewonnen. Im Grunde genommen hätte er sogar auch von zu Hause aus, per Telefon spielen können.“

Heute berichten Fußballreporter für Leute, die glauben, daß man auch von zu Hause aus, per Fernsehen, das Wichtigste davon mitbekommen kann. Das ist nicht nur ein Irrtum, die Texte sind auch danach. Beim Lesen von Rodrigues hingegen flucht man ständig, nicht dabeigewesen zu sein und nicht einmal Portugiesisch zu können, für die 10.000 Kolumnen, die nicht übersetzt sind. So müßte man schreiben.

zurück

Das könnte Sie auch interessieren

Cookies verwalten