Pierluigi Collina

Walther-Bensemann-Preisträger 2019

Ehrenmitglied
Auszeichnungen

Begleittext zur Preisverleihung 2019 (zum Video)

Dieser stechende Blick. Man mochte fast glauben, die aufgerissenen, hellblauen Augen unter dem Stirnrunzeln blickten dem Gegenüber nun prüfend in die Seele und würden schon
herausfinden, ob da gerade etwas Unlauteres im Spiel war. Und die Profi-Seele wusste spätestens jetzt, dass sie sich fortan besser an die vereinbarten Regeln hielt. Der beste Referee ist der, den man während der 90 Minuten nicht bemerkt. Diese Weisheit existiert womöglich seit der Erfindung des Rads. Pierluigi Collina streifte sich als Teenager erstmals das schwarze Hemd über und zog aus, das Dogma pfiffig umzuwälzen. Der beste Referee sollte der sein, der für ein gerechtes Spektakel sorgte. Nicht DER Protagonist des Spiels, sondern EINER von 23. Dazu durfte der Schiedsrichter notfalls ruhig auffallen. Charisma und Entschlossenheit verschafften ihm um die Jahrtausendwende das Ansehen als weltbester Referee. In der Heimat wählten die Profis Collina in sieben Jahren zum besten Schiedsrichter ihres vergötterten Calcio.

Selbst der irische Verband kürte den Italiener 2005 zum ausländischen Sportler des Jahres. Die englische "Times" positionierte Collina gar auf Platz 50 der 50 härtesten Fußballer aller Zeiten, und das war womöglich ein weiteres Kompliment. "Natürlich nicht im Entferntesten ein Fußballer, doch der Furcht einflößende Nosferatu hat sich im taffen Profi-Haufen allein durch das
bedrohliche Funkeln seinen Platz redlich verdient", argumentierte das Blatt und nominierte auf den vorderen Rängen so einige Fußballer, die ihr Bad-Boy-Image unter Collina pausieren ließen. Dazu bedurfte es freilich nicht immer autoritärer Maßnahmen: Respekt, Gerechtigkeit, Vertrauen, nannte Collina als Voraussetzungen, der Schiedsrichter in seiner Urfunktion als integrer Regelhüter, aber auch Adjutant. Insbesondere Kommunikation diente ihm dabei als hervorragendes Vehikel.

Der hitzigen Atmosphäre in einem heiklen Qualifikations-Duell zwischen der Türkei und England kam er in der Halbzeit bei, als Collina die beiden Kapitäne David Beckham und Alpay zur reinigenden Dreier-Runde in seine Kabine zitierte. Monate später erzählte ihm der Engländer, nicht bloß die
vernünftige Unterhaltung hätte "die heikle Partie gerettet", sondern vor allem die mystischen Rauchschwaden, die in der schwitzigen Schwüle über Collinas Kahlkopf emporstiegen.

Zur Erklärung eines aberkannten Treffers beugte sich Collina vor die tief liegende Trainerbank des San Siro und sprach zum damaligen Inter Mailand-Coach Roy Hodgson herab. Es folgte ein Handreichen unter Gentlemen und das Bild ging um die Welt.

In einem Süd-Duell zwischen Foggia und Bari regnete vor dem Start der zweiten Hälfte alles, was nicht niet- und nagelfest war, auf die Torhüter nieder und Collina verzichtete zur Entschärfung auf den Seitenwechsel. Unorthodox, aber es half. Kritiker kreideten ihm dann meist Selbstdarstellung an
und von einer Prise erarbeiteter Eitelkeit kann er sich wohl nicht freisprechen. Doch ein rechtschaffener Calcio-Sheriff wäre ohne Posen freilich nur halb so cool.

Einige Emotionen durften sich gelegentlich trotzdem einschleichen. Als Collina im Sommer 2005 das Abschiedsspiel von Ciro Ferrara im neapolitanischen Stadio San Paolo leitete, musste auch er bei der Rückkehr von Diego Maradona unter den Vesuv nach 14 Jahren zugeben: "Ich bin zwar Schiedsrichter, doch die Zuneigung der Leute hier für diesen Menschen bereitete mir Gänsehaut." So reservierte er sich die notwendige Zeit für Menschlichkeit, wenn es der Moment erforderte.
Ob er nun den apathischen Oliver Kahn nach dem WM-Finale 2002 oder den entgeistert am Boden liegenden Stefan Effenberg im wahnwitzigen Champions-League-Endspiel 1999 behutsam tröstete. Auch das sei Fußball. Wie im Leben. Von der Freude zur Desperation genüge bisweilen ein Augenblick.
Collina reflektierte es stets als die moderne Crux in Sport und Alltag, dass der Erfolgsgedanke "Sieg um jeden Preis" als Normalität akzeptiert wurde, somit unsportliche Mittel zum Zweck provoziere und schließlich insgeheim legitimiere. Eine Kultur, in der schon der Zweite als Verlierer gelte, sei eine gefährliche Evolution, denn auch in der Niederlage liegen Meriten und Erkenntnisse. Deshalb dürfe das Stadion laut Collina nicht zum tolerierten Niemandsland der Desperados ausarten, einem rechtsfreien Gehege für knapp zwei Stunden.

Letztlich ging es Collina immer um die Quadratur des Feldes und er sprach von Courage, die den Schiedsrichter adele – "der Mut, schwierige und wichtige Entscheidungen sekundenschnell im Rechtssinn zu fällen, ohne Konsequenzen zu fürchten". Diese Integrität nahm man ihm stets ab. Der personifizierte Kreuzritter gegen den faden Stereotyp, Referees würden Frustrationen verpasster Lebens-Chancen als sadistische Vergelter in Schwarz ausleben. "Es bedeutete keine Libido, die rote Karte zu ziehen. Es fühlte sich jedes Mal eher wie eine kleine, persönliche Niederlage an", sagte er.

Nicht von ungefähr war Collina (neben seinem Landsmann Roberto Rosetti) der einzige Referee, der während des Manipulations-Skandals des Calcio die Wut von Strippenzieher Luciano Moggi auf sich zog. Dessen Objektivität und Sauberkeit müsse bestraft werden, zürnte Moggi damals. Aus "Calciopoli" 2006 ging Collina sauber hervor, und das durften nicht viele aus der Welt des Calcio in ihrem Curriculum notieren.

Ein Jahr zuvor hatte Collina dem Job bereits Arrivederci gesagt. Ein Werbevertrag mit General Motors veranlasste die durchaus zuvor informierte Schiedsrichter-Vereinigung dazu, ihn in die Serie B zu versetzen, da Opel zu den Sponsoren des AC Milan zählte. Collina erklärte, er hätte keinerlei Probleme, in der zweiten Liga zu pfeifen, der Vertrauensentzug hingegen traf ihn tief: "Ohne Glaube in den Schiedsrichter ist es sinnlos weiterzumachen. Es ist traurig zu denken, wir wären von irgendeiner obskuren grauen Eminenz manövrierte Marionetten."

Der erste und womöglich letzte Schiedsrichter-Superstar hörte nach 28 Karriere-Jahren auf. Er hatte auf seinen unzähligen Reisen die Figur des Schiedsrichters in eine andere Dimension erhoben. Collina war in Werbe-Spots, Zeichentrick, auf Videospiel-Covern oder Musik-Videos dabei, seine Karikatur zieren Graffitis und hob er die Hand, gab es selten Proteste. Seine Einsätze präparierte er in langstündigen Videostudien, in denen er sich Systeme, Links- und Rechtsfuß oder Spielschemata einpaukte. Dabei kickte Collina in der Jugend zunächst als Libero, bis ihm der Banknachbar auf dem Gymnasium seines Geburtsorts Bologna eines Tages zuflüsterte, es gäbe da so einen Schiedsrichter-Tag, und ob man da nicht mal zum Spaß vorbeischauen sollte. Collina war 17 und sagte: "Klar, wieso nicht?" Die Frage nach dem warum ist manchmal so einfach.

Dann wären da freilich noch die Haare, vielmehr die komplett fehlende Gesichtsbehaarung, die Collina zum furchteinflößenden Markenzeichen machte. Schuld war eine Stoffwechsel-Krankheit. Er ging seit er 24 Jahre alt war kahl durchs Leben, als der rasierte Schädel noch nicht als Mode-Gag galt und die Obmänner ernsthaft überlegten, ob ein Schiedsrichter mit Glatze tatsächlich problemlos pfeifen könnte. Er konnte. Sein Erfolg gab Eltern mit ähnlichen Schicksalen ihrer Kinder Mut, wie zahllose Dankesbriefe bestätigten.

Der Botschafter für das Internationale Rote Kreuz und SOS-Kinderdörfer polierte in seinen teils amüsanten Werbespots nicht bloß für sie die Reputation auf. "Es war ein Mittel, um zu zeigen,
dass der Schiedsrichter kein notwendiges Übel im Fußball bedeutete, wie viele denken, sondern dass man mit ihm ein durchaus positives Image vermitteln konnte. Das sollte auch den jungen Leuten helfen, die sich Woche für Woche ohne Wertschätzung auf all den Plätzen abseits des Rampenlichts tapfer präsentieren." Dank Collina war der Referee plötzlich nicht mehr ganz so einsam. Ob mit wehender Haarpracht oder dampfender Glatze.

von Oliver Birkner

Pierluigi Collina
© Jan Rygl
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