Platz 4Fußballbuch 2011

Torschrei

Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen (2010/2011)
Platz 4  Fußballbuch des Jahres 2011 
Osburg Verlag
19,95 Euro
Buchcover Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen von Jürgen Bertram

Rezension zu: Torschrei

Stefan Erhardt

Es ist eine Kindheitsreportage. Es ist eine Familiengeschichte. Es ist eine Coming-of-Age-Story. Es ist ein Entwicklungsroman. Es ist ein Psychogramm. Es ist ein Zeitgemälde. Es ist alles davon.

Wie oft sich Jürgen Bertram in seiner autobiographischen Erzählung den „Torschrei“ verkneifen musste, weil ihm, dem Sohn aus einer gutbürgerlichen Familie, der „Proletensport“ Fußball untersagt, er aber dem Verbot zum Trotz zum „Fußballsüchtigen“ wurde –
Wie der einzige Sohn eines alles dominierenden Vaters, ehemals SA-Mitglied, und einer Mutter, die irgendwann das alles nicht mehr – das Vergangenheitsverklären der Kameraden, das Beschweigen der Gegenwart, das Unterdrücken von Emotionen – ertragen wollte und konnte, wie er versucht zu sich selbst zu finden, einen Platz für sich zu finden in diesem innerlich erstarrten Nachkriegsdeutschland –
Wie das Kind in den Fußball vernarrt ist, das Gymnasium schmeißt, auf die ungeliebte Handelsschule geht, sich an Nikotin und Alkohol berauscht und wie die Sucht ihn festhält –
Wie der Jugendliche zum Fußballexperten wird, alles liest, was er über seinen Verein, Goslar 08, in die Finger bekommen kann, heimlich zu Spielen trampt, die Grenzen seiner Unabhängigkeit ertastet, den Sprung vom Buchhalter zum Journalisten wagt und mit Erfolg meistert – Wie das Kind, der Jugendliche, der junge Mann, der Erwachsene indirekt wie direkt um nur das winzigste Zeichen von Vaterliebe bettelt, stets im Konflikt mit Stolz und Trotz ob dessen Misshandlungen an ihm –

Wie das Nachkriegsdeutschland auch als BRD, aber eben auch unter Adenauer viele Jahre lang mehr oder weniger offen auf der Richtigkeit kriegsdeutscher Ideologie beharrt und sich gegen alles sperrt, was eine Änderung der Gewohnheiten, des Denkens, nicht zuletzt des Fühlens verlangen würde – all dies erzählt der Journalist, Publizist und langjährige Fernsehkorrespondent Jürgen Bertram in seinen „Bekenntnissen“. Und man nimmt Teil, wird Zeuge, schlägt sich auf seine Seite, entrüstet sich, leidet mit, wenn etwa der Protagonist nach der ungerechten Bestrafung mit dem Gürtel des Vaters und mehrtägigem Stubenarrest (später folgt gar ein lebenslanges Fußballverbot) bei offenem Fenster verzweifelt auf günstigen Wind hofft, damit er das Raunen und Jubeln der Zuschauer im nicht allzu fernen Stadion am Osterfeld in Toren und Gegentoren interpretieren kann.

Goslar, eine Kleinstadt mit damals um die vierzigtausend Einwohner, steht als Schauplatz des Buches stellvertretend für den Kleingeist, der die Adenauer-Republik beherrschte, in fast allen Belangen. Für die bleierne Schwere, die der Neudefinition der Deutschen entgegen stand; für die Ausblendung vergangener Verbrechen, für die Verklärung des Kriegs durch die, welche den Krieg überleben durften: die in zutiefst seelischer Verhärtung und ideologischer Radikalverbohrtheit selbst dann sich nicht erweichen lassen, als einer „der ihren“ Geld unterschlägt, weil er spielsüchtig wurde, und inständig um Gnade vor ihren Augen bittet. „Die Kriegskameraden hielten Rat in unserer Wohnung und beschlossen, ihrem Kameraden Ludewig nicht zu verzeihen. Auch ein Gespräch mit seiner um Gnade bittenden Frau konnte sie nicht erweichen. Da hat ihr Kamerad Ludewig in seiner Zelle ein Bettlaken zusammengeknotet und sich erhängt.“ Das Buch ist, so gesehen, auch eine Anklageschrift.

Eine Anklage – wegen der Unfähigkeit zu trauern, wie es die Mitscherlichs 1967 für ihre erschütternde Gesellschaftsanalyse formulierten; eine Anklage wegen der Unfähigkeit sich zu sorgen und zu empfinden, wo es um die eigenen Familien ging. Fast beiläufig erzählt der Autor von einem Übersetzungsauftrag der Bergwerksfirma, bei der er als Lehrling angestellt ist. Für den wird ihm „ein wertvolles Geschenk“ versprochen – was sich als Zwei-Marks-Feuerzeug entpuppt. Auf seine Nachfrage beim Sohn des Firmeninhabers erklärt ihm der, damit würden alle Jubilare und Invaliden abgespeist; warum auch er trotz jugendlichen Rauchverbots ein Feuerzeug erhält, leuchtet ihm nicht ein, bis der Freund die für diese Zeit psychopathologisch auf den Punkt gebrachte Antwort gibt: „... weil das die billigste und bequemste Lösung war.“

Billig und bequem – das galt für alles, was an Schrecklichem aus der Nazi-Zeit unbesprochen und unverarbeitet im Raum der BRD stand. Wird ein Film über das Konzentrationslager in Bergen-Belsen im örtlichen Gasthof gezeigt, verlassen die meisten mit abweisend versteinertem Gesicht den Raum; kommt ein Gespräch auf Juden, zieht sich der Vater heraus mit den Worten „Ich geh mal die Karnickel füttern.“ Es wird viel geschwiegen in diesem Buch.

Nicht von ungefähr, sondern ganz gezielt und trefflich beginnt es denn auch mit nur diesem einem Wort: „Schweigen.“ Und setzt sich, stilsicher, in diesem leeren Gefühlsraum eliptisch fort: „Auch am Sonntag beim Frühstück: dieses grauenhafte Schweigen.“ Erst dann erscheinen Tätigkeitswörter, schweigen, denken an, ums Leben kommen, die Axt anlegen. Ein dumpfer Gefühlskreis, der sich hier auftut, der den Erzählraum verdunkelt.

Fast wäre es allerdings noch zu einem Annähern, gar einer Aussöhnung gekommen zwischen Vater und Sohn, nachdem dieser ihn verprügelt und hinauswirft, als er nämlich erfährt, dass der Sohn sich um ein Volontariat beim Helmstedter Kreisblatt beworben und nicht, wie er’s geplant, die „solide berufliche Perspektive“ eines Buchhalters angenommen hat: „Mein Vater ringt nach Worten, schafft es aber wieder nicht, sie aus sich herauszuwürgen. Aber ich weiß, was er sagen will:  Ich habe dir Stenografie beigebracht, dich zur Handelsschule geschickt [...]. Du trittst das alles mit Füßen und bewirbst dich, ohne mich vorher zu fragen, bei so einer Zeitung“ – bei den „Schmierfinken“, wie es in seinen Kreisen heißt.

Später, Herbst 1966, der Erzähler ist mittlerweile aufgestiegen, arbeitet bei der dpa, unternimmt er einen letzten Versuch, den Vater doch noch für sich gewinnen zu können. Er lädt ihn ein zu einem Fußballspiel der Braunschweiger Eintracht ins Stadion an der Hamburger Straße, der Versuch scheint zu gelingen, der Vater geht mit, begeistert sich, scheint besänftigt, beruhigt, beider Blicke treffen sich. Aber die Aussöhnung scheitert – an einem Mettbrötchen, das ihm der Vater reicht („Iss! Frisches Schweinehack. Hausschlachtung. So was findest du in ganz Hamburg nicht!“), das er nicht annimmt. Dieses rohe Fleischerzeugnis verkörpert wie ein Symbol die Festgefahrenheit der Alten, ihr stures Festhalten am Alten im ganzen Buch.

Jürgen Bertram hat auf ganz spezielle Art mit wenigen, oft groben Strichen persönliche Geschichte und überpersönliches Weltgeschehen miteinander verbunden; Zeitbilder, Da-Seins-Bilder gemalt, die mit ihrer schnörkellosen Darstellung einen mitreißen und einen tiefen Einblick geben – in die Seele jener Zeit wie auch in die des Erzählers.

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