Platz 5Fußballbuch 2016

Quiet Leadership

Wie man Menschen und Spiele gewinnt (2015/2016)
Platz 5  Fußballbuch des Jahres 2016 
Buchcover Quiet Leadership - Wie man Menschen und Spiele gewinnt von Carlo Ancelotti

Rezension: Quiet Leadership – Wie man Menschen und Spiele gewinnt

Birgit Schönau

Wenn die linke Augenbraue nach oben wandert, wird es gefährlich. Dann drohen wilde Schimpfkanonaden auf Italienisch und wer nicht rechtzeitig in Deckung geht, kriegt auch schon mal eine Kiste an den Kopf geschossen. Wie Zlatan Ibrahimovic, dem das in der Kabine von Paris St. Germain passierte. „Jesus, dachte ich. Jetzt ist er wirklich wütend“, erinnert sich Ibrahimovic in „Quiet Leadership – Wie man Menschen und Spiele gewinnt.“ Das Buch, erschienen im Knaus Verlag, hat der Kistenschütze Carlo Ancelotti gemeinsam mit den Engländern Chris Brady und Mike Forde geschrieben. Es handelt sich um eine Mischung aus Memoiren und Trainerphilosophie. „Quiet Leadership“ ist schon ein Bestseller, denn in Deutschland hat der Hype um Ancelotti lange vor seinem Amtsantritt als neuer Cheftrainer beim FC Bayern begonnen. Der deutsche Fußball, in dem nach dem Abgang von Jürgen Klopp die beflissenen Grübler den Ton angeben, scheint geradezu zu gieren nach dem Erfolgs- und Genussmenschen aus der norditalienischen Emilia Romagna.

Endlich mal wieder einer, für den der Fußball nicht nur eine Fleißaufgabe ist und das nächste Spiel ein zu lösendes Problem. Endlich Leben in der Bude, zuckende Augenbrauen, fliegende Kisten, Lambrusco und Tortellini! Carlo Ancelotti wird inszeniert als vitale italienische Antwort auf den asketisch-düsteren Katalanen Pep Guardiola. „Der war wie eine Maschine“, erklärt Ibrahimovic in „Quiet Leadership“, „er hatte immer einen genauen Plan, wie es laufen sollte. Wir kamen uns vor wie in der Schule, und wir, die Spieler, waren die Schuljungen.“ Wenn Pep die Maschine ist, so ist Carletto, wie ihn längst nicht nur seine Freunde nennen, ein gestandenes Mannsbild. Und vor allem: ein Mensch.

Es menschelt gewaltig in „Quiet Leadership“, vor allem bei Ancelottis ehemaligen Spielern, die über ihren alten Chef allerlei liebevolle Anekdoten erzählen. Ob Ibra („Du würdest töten für ihn!), Cristiano Ronaldo („Er gibt einem das Gefühl, man werde Teil seiner Familie“), David Beckham („Paolo Maldini, Gennaro Gattuso und Filippo Inzaghi heulten wie die Schlosshunde, als er ging“), John Terry („Er kennt jeden mit Namen, auch die F-Jugend-Spieler) oder Toni Kroos („ich habe nie jemanden schlecht über ihn reden hören, was im Fußball wirklich ungewöhnlich ist.“) - Ancelotti hat sie alle trainiert. Und alle beschreiben ihn als Gentleman, der Respekt einflößt, indem er selbst die anderen respektiert. 

Nach diesen geballten Liebeserklärungen (sogar Sir Alex Ferguson wird hier sentimental, naja fast), möchte man als Leserin gefälligst selbst einen Chef wie Carlo Ancelotti haben. Oder doch wenigstens einen Italiener, bei dem die Wutausbrüche immer nur zwei Minuten dauern und der nachts auf dem Parkplatz vor dem Stadion noch einer Signora bei der Autopanne hilft.

Was das Buch aber nicht nur für die Spieler des FC Bayern lesenswert macht, sind Ancelottis Auslassungen über den Fußballbetrieb. Er, der selbst als 14-Jähriger Bub im Spielerinternat begann, kennt alle seine Facetten, als Aktiver und als Trainer. Die heimatlichen Provinzvereine, die italienischen Großklubs Juventus Turin, AC Mailand, AS Rom. Die Nationalmannschaft und dann die ausländischen Ligen. Frankreich, England, Spanien. Überall hat Ancelotti Trophäen geholt, zuletzt die „Decima“, die zehnte Champions League mit Real Madrid. Und sein früherer Co-Trainer Zinedine Zidane hat ihm soeben Europapokal Nummer 11 gewidmet.

Trotz des Titels, der aus der fadenscheinigen Welt der Business-Coaches geliehen scheint, ist „Quiet Leadership“ ein interessantes Fußballbuch. Ancelotti erklärt darin, wer beim Transfermarkt den Ton angibt – nicht der Trainer, denn der ist erwartungsgemäß bald wieder weg, sondern eine Klubführung, die in die Zukunft investieren muss. Und er beschreibt, dass Fußball zwar ein Mannschaftssport ist, aber von Talenten gemacht wird. Ein Coach, so Ancelotti, müsse sich dem größten Talent im Team anpassen, nicht umgekehrt: „Es geht nicht darum, das Talent zu domestizieren, damit es zum Team passt, sondern umgekehrt das Team zu stärken, damit es zum Talent passt.“

So habe er etwa bei Real Madrid sein Lieblings-Taktikschema 4-4-2 geändert – zugunsten von Cristiano Ronaldo. „Wie käme ich dazu, die Position eines Spielers, der pro Saison 60 Tore schießt, gegen seinen Willen zu verändern?“ Ancelotti will, dass seine Spieler sich wohlfühlen. „Dafür“, erkennt er, „werde ich geholt.“ Als Friedensstifter in einer frustrierten Kabine. Und als solcher wird er gewöhnlich auch wieder entlassen. Genau jene Fähigkeiten der einfühlsamen Menschenführung, für die er berühmt ist, werden ihm im Falle des Misserfolgs vorgeworfen und für sein Scheitern verantwortlich gemacht. Die Geschäftswelt des Fußballs funktioniert auch nicht anders als der Rest des Wirtschaftssystems. Carlo Ancelotti weiß das genau und analysiert es auf sehr eindrückliche Weise.

Immer wieder neue Sprachen lernen, sich auf immer wieder neue Fußball- und Alltagskulturen einstellen – für ihn ist das unabdingbar. Seit Monaten lernt er Deutsch, wie er auch von seinen Spielern verlangt, dass sie sich in der Landessprache ausdrücken können. Man kann sich sicher sein, dass Carlo Ancelotti bereits weiß, wie der deutsche Fußball tickt, bevor er einen Fuß auf die Säbener Straße gesetzt hat.

Und wie die deutschen Medien funktionieren, ahnt er vermutlich, wenn ihn der erste Aufschrei der Empörung über sein Buch erreicht hat. Da gibt es nämlich Stellen, die politisch nicht korrekt sind. Etwa jene, wo Ancelotti vom Führungsstil des Don Vito Corleone schwärmt, dem von Marlon Brando gespielten Film-Mafioso aus Francis Ford Coppolas Klassiker „Der Pate.“ Er schreibt: „Natürlich weiß ich, dass er schlimme Dinge tut und dass die Mafia eine kriminelle Organisation ist. Aber dieselben Eigenschaften, die hier für das Böse missbraucht werden, können auch das Gute befördern.“ Ein italienischer Coach ist fasziniert von Marlon Brandos Auftritt als Familienpatriarch. In Deutschland sind sie entsetzt darüber. Und dann sagt dieser Ancelotti auch noch: „Wenn ich in den Krieg ziehen müsste, würde ich mit den Engländern ziehen, nicht mit den Italienern oder den Franzosen.“ Der neue Bayern-Trainer, ein Militarist und Kriegstreiber! Es ging ihm, unbekümmert ausgedrückt, um die Darstellung englischer Kämpfermentalität.

Vieles spricht dafür, dass Carlo Ancelotti, der Sohn eines italienischen Kleinbauern aus der Emilia, auch in Deutschland gelassen bleiben wird. Studieren und sich anpassen, ist in Ordnung, aber um sich domestizieren zu lassen, hat unser Mann dann doch zuviel Lebenserfahrung. Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Mein Arsch ist erdbebensicher.“

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