Platz 1Fußballbuch 2017

Helmut Schön

Eine Biografie (2016/2017)
Platz 1  Fußballbuch des Jahres 2017 
Buchcover Helmut Schön - Eine Biografie von Bernd-M. Beyer

Rezension: Helmut Schön

Ludger Schulze

Die Frage nach dem besten aller Bundestrainer würden - wetten, dass - 70 Prozent der jüngeren Fußballfreunde ohne Wimpernzucken mit „Jogi Löw!“ beantworten und 30 Prozent mit „Franz Beckenbauer!“ Tja. Da hätten 100 Prozent dieser Fußballfreunde mal eben Unrecht. Denn der beste aller Bundestrainer ist, Ältere werden sich daran erinnern, einer aus der Steinzeit, also von vor cirka 40, 50 Jahren. Der Mann hieß Helmut Schön, er wurde Weltmeister 1974, Europameister 1972, Zweiter bei der WM ‘66, WM-Dritter ‘70, nur EM-Zweiter ’76, weil Hoeneß einen Elfmeter tief in die Walachei ballerte – eine pralle Bilanz, die Löws Erfolgsliste mit „nur“ einem Titel (WM 2014) fast ein bisschen schwindsüchtig erscheinen lässt. Und über diesen Helmut Schön ist in 40, 50 Jahren nicht eine einzige Biographie erschienen, während Lebensgeschichten von zahlreichen, deutlich weniger großartigen Trainern wie Peter Neururer, Dragoslav Stepanovic, Huub Stevens oder Bernd Schröder den Buchmarkt überschwemmten.

Dass diese Lücke nun endlich geschlossen wurde, ist in zweierlei Hinsicht erfreulich und verdienstvoll. Erstens durch die Tatsache an sich und zweitens durch die Person des Autors: Bernd-M. Beyer hat seine Meisterschaft schon als Verfasser der stark beachteten Walther-Bensemann-Biographie, als Herausgeber exzellenter Werke wie „Das goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft“ und als sachkundiger Lektor des renommierten Verlags Die Werkstatt nachgewiesen. Mit herkulischem Fleiß, akribischer Recherche, blendender Übersicht und feiner Schreibe hat Beyer diese Mammutaufgabe auf mehr als 500 Seiten, von denen keine einzige langweilt, aufs eleganteste gelöst.  Und nach der Lektüre schüttelt man den Kopf, wie ein so hochinteressanter Stoff jahrzehntelang vergraben bleiben konnte.

Helmut Schön kam 1915 als Sohn eines fußballfernen Dresdener Kunsthändlers auf die Welt, Unterstützung erfuhr er durch die Mutter. Sein sportlicher Ziehvater war der schottische Trainer Jimmy Hogan, ein früher Apologet des gepflegten Kurzpasses. Diese ästhetische Spielweise kam dem schlaksigen Schön entgegen. Mit dem Dresdener SC wurde er zweimal Meister, für die Nationalelf erzielte der technisch beschlagene Mittelstürmer in 16 Länderspielen 17 Tore – und war mit einer Quote von 1,06 Toren pro Spiel unwesentlich weniger effektiv als der Gigant Gerd Müller (1,10). Weitere Erfolge verhinderte ein extrem verletzungsanfälliges Knie, das ihn zu elend langen Pausen zwang und ihm beim Reichstrainer Sepp Herberger, der Presse und den Zuschauern den – ungerechtfertigten – Ruf eines Weicheis eintrug.  Diese Schmähung sollte ihn ein Leben lang begleiten.

Schöns Karriere begann in einer Diktatur und ging über in die nächste. Als Spieler mogelte er sich in Hitler-Germanien durch, ein Nazi war er nie, engster Freund der Familie Schön war der jüdische Verleger Max Wollf, der sich umbrachte, ehe er deportiert werden konnte. Schöns Laufbahn als Trainer begann im Sozialismus, oder was man in der DDR dafür hielt. Auch hier schwamm er mit, wurde sogar Nationaltrainer, aber schließlich wegen „undemokratischen Verhaltens“ gefeuert, als er während eines Trainerlehrgangs in Köln Kontakt mit Sepp Herberger knüpfte. Bevor es ihm richtig ans Leder ging, floh Schön nach Westberlin ins demokratischere Deutschland.  

Als Landestrainer des seinerzeit autonomen Saarlands erwarb Schön erste Meriten, Herberger machte ihn 1956 zu seinem ersten Assistenten. Acht Jahre später wurde „der Mann mit der Mütze“, wie ihn der Chansonnier Udo Jürgens später besang, Nachfolger des Alten von der Bergstraße. Herbergers Altmänner-Eifersüchteleien machten ihm zu schaffen, vor allem der ständig wiederkehrende Vorwurf, ein Zauderer und übersensibler Spielerversteher zu sein. Dabei hatte Helmut Schön lediglich den bleiern-autoritären Geist der Adenauer-Zeit hinter sich gelassen, als Trainer übertrug er Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ auf das Spielfeld und gewährte Strategen wie Beckenbauer, Netzer oder Overath Mitsprache. Das missfiel vielen in der Law-and-Order-Branche Fußball. Und dass der kluge, tolerante und weltoffene Helmut Schön auch noch das Schauspiel und die Oper liebte, war dem Fußvolk in Redaktionsstuben und auf der Stehtribüne ohnehin suspekt.

Die platten Vorwürfe überdeckten, dass der Bundestrainer in kritischen Situationen Mut, gelegentlich sogar Tollkühnheit aufbrachte. Er ersetzte die defensiv geprägte Spielanlage von Altmeister Herberger rigoros durch erfrischenden Angriffsfußball, in einem WM-Qualifikationsspiel in Schweden, bei dem es für Schön um Kopf und Kragen ging, ließ er zwei internationale Anfänger debütieren. Der eine war gerade der Jugendmannschaft entwachsen und hatte bis dahin nur sechs Bundesligaspiele bestritten: Franz Beckenbauer. Der andere, Peter Grosser, galt als unberechenbarer Gute-Laune-Kicker. Beide lieferten eine überragende Partie, den Siegtreffer zum 2:1 aber steuerte der Rekonvaleszent Uwe Seeler bei, den Schön nach einem schweren Achillessehnenriss – damals häufig gleichbedeutend mit dem Karriere-Ende – gegen die Bedenken der Mediziner wie der halben Nation aufbot. 1972 brachte Schön in Breitner und Hoeneß zwei Milchbärte ausgerechnet gegen die zu dieser Zeit weltklassigen Engländer, ausgerechnet im altehrwürdigen Wembley, worauf Experten den fußballerischen Weltuntergang prophezeiten. Heraus kam ein 3:1-Sieg in einem fulminanten Match, das sich für alle Zeiten mit dem 7:1 gegen Brasilien (2014) ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die brillanteste Leistung einer deutschen Nationalmannschaft liefern wird.

Dies alles hat Bernd-M. Beyer fein herausgearbeitet und dabei eine Fülle von bislang nicht bekannten Fakten und Details aufgeboten, die auch den Verfasser dieser Zeilen verblüfft, der selbst vor Jahren einmal einen umfangreichen Buchbeitrag über Helmut Schön zu Papier gebracht hat. Frei Haus bekommt der Leser Anschauungsunterricht im Fach Entwicklungsgeschichte des deutschen Fußballs vom randsportartigen Freizeitvergnügen bis zum hochprofessionellen Millionen-Business. Und ganz nebenbei öffnet das Werk einen faszinierenden Blick auf sechs Jahrzehnte deutscher Geschichte und vier verschiedene Staatsformen. Man kann den Leuten, die sich für eine solch faszinierende Persönlichkeit interessieren und die krass unterschiedlichen Zeiten, in denen Helmut Schön lebte, nur eines raten: lesen, dringend lesen, dieses Buch.

 

 

 

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