Platz 9Fußballbuch 2016

Das Leben in 90 Minuten

Eine Philosophie des Fußballs (2015/2016)
Platz 9  Fußballbuch des Jahres 2016 
Gunter Gebauer

Verlagsinfo www.randomhouse.de
14,99 Euro
978-3-570-55266-7
Buchcover Das Leben in 90 Minuten - Eine Philosophie des Fußballs von Gunter Gebauer

Rezension: Das Leben in 90 Minuten

Bernd Gäbler

Denken wir etwa auch mit den Füßen?

Wenn Intellektuelle über Fußball schreiben, sind Fans oft skeptisch: da würden nur Oberschlaue etwas in ihren einfachen und begeisternden Sport „hineininterpretieren“. Das liegt daran, dass viele tatsächlich vor allem mit Analogien arbeiten. Fußball ist dann „wie Krieg“, Religionsersatz, begleitet von Stammesritualen oder es wird für ein Land sogar eine exakte Parallelität von Fußball und Politik diagnostiziert. Der Philosoph Gunter Gebauer arbeitet genau andersherum. Er nimmt den Fußball so ernst, wie es ihm gebührt und holt aus ihm heraus, was tatsächlich in ihm steckt.

In fast beängstigend systematischer Logik beginnt er folglich mit dem Fuß und mit dem Ball. Das allein im Fußball exklusiv ausgesprochene „Handverbot“ begründe eine Gegenkultur, erklärt Gebauer, es zwinge den Menschen zum Einsatz seines ungeschicktesten Körperteils. Mit dem Fuß kann er den Ball weder fangen, greifen, festhalten noch gezielt weiter werfen. In unendlichen Übungen wird in dieser „artifiziell verordneten Notlage“ nun der Fuß trainiert, damit er den Ball berühre, streichele, beherrsche. Der Spieler überträgt seine Absichten auf die Füße. Da ist ein Scheitern immer nah, das Fragile der menschlichen Existenz präsent und soll doch überwunden werden.

Und das ausgerechnet mit dem Ball. Keiner ist so sehr Agent des Zufalls wie der Ball mit seiner perfekten Rundung. Im Prinzip kann er überall hinrollen. Er ist die unabhängige Kraft zwischen den beiden Mannschaften. Über die Ballbeherrschung soll der Gegner beherrscht werden. Das verlangt von den Spielern – und hier ist der Autor ganz auf der Höhe des modernen Fußballs – ständige Kooperation. Ein effizienter Spieler, der eins wird mit dem Spiel, muss sich zugleich öffnen gegenüber dem sozialen Geschehen um ihn herum und einen Sinn entwickeln für die räumlichen Verhältnisse. So wird jeder Pass ein Imperativ: Spiel den Ball weiter! Und das Zusammenspiel ist nichts anderes als Kommunikation. Ohne Worte allerdings – und gedacht wird mit den Füßen! „Verkörperte“, also durch körperliche Fähigkeiten ausgedrückte Philosophie nennt Gebauer folglich diesen einmaligen Sport.

Ebenso substantiell untersucht Gunter Gebauer anschließend Mythen und Macht, Rituale und Emotionen des Fußballs. Das Schlusskapitel widmet er den Deutschen und ihrem Fußball. 

Besonders bemerkenswert sind seine Überlegungen zu den Fans im Stadion. Die Fans bilden den heißen Kern der Emotionen im Stadion und sind ein Resonanzraum des Spiels. Der Fan fühlt die eigene Mannschaft überlegen oder schwach werden. Hier bricht Gebauer dann mit den bisher gängigen Zuschreibungen. Meist in der Tradition von Elias Canettis „Macht und Masse“ betonen Kritiker in der Regel, wie der Fan in der Masse aufgeht und dabei seine Autonomie und Individualität einbüßt. Warum aber ist das Selbst-Gefühl der Fans geradezu gegenteilig? Im Stadion lebt man in der absoluten Gegenwart, weiß Gebauer, und kann in den Momenten dichter Euphorie in der Fangruppe sein Ich sogar besonders intensiv erfahren. In der enthusiastischen Masse erlebt der Einzelne eine Selbst-Vergewisserung. So rehabilitiert der Philosoph den Fan und versucht gar nicht erst zu verbergen, dass er auch einer ist. 

Gunter Gebauer verfügt über ein reiches theoretisches Werkzeug. Zitate von Ludwig Wittgenstein, Friedrich Nietzsche, Max Weber oder Michael Foucault gehen ihm leicht von der Hand. Gut lesbar ist „Das Leben in 90 Minuten“ aber auch für alle, die weniger belesen sind. Denn immer ist auch spürbar, wie sehr der Autor beim  Denken aus dem eigenen heißen Erleben des Fußballs schöpft. Gebauers „Philosophie des Fußballs“ (so der Untertitel) ist zugleich analytisch und eine großartige Hommage an diesen einzigartigen Sport. Das Buch ist  geradezu passgenau verfasst für das Lob einer Institution, die sich der „Fußball-Kultur“ verschrieben hat.

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